"Lindy Girls" von Anne Stern spielt 1928 in Berlin und erzählt von den Tanzgruppen, die zu Charleston tanzten und in Tanzpalästen auftraten. Erschienen ist der Roman im November 2023 im Aufbau Verlag. Der Charleston ist im Berlin der ausgehenden 20er Jahre stark im kommen als die Choreografin Wally ihre Tanzgruppe gründet. Mit den "Lindy Girls" möchte sie sich ihren Traum erfüllen und in den großen Tanzpalästen auftreten. Frauen aus den unterschiedlichsten Schichten kommen in ihrer Tanzgruppe zusammen, wie z.B. die Fabrikarbeiterin Alice, die in prekären Verhältnissen lebt oder auch die Industriellentochter Thea, die von zu Hause flieht, um nicht zu heiraten. Der Weg der Frauen ist kein einfacher, denn obwohl Frauen mehr Rechte haben, so ist die Unterhaltungsbranche noch immer von Männern dominiert. Anne Stern wird bei mir wahrscheinlich für den Rest meines Lebens mit dem Berlin der 20er Jahre und der Weimarer Republik verbunden sein. Auch hier verbindet die Autorin wieder ganz unterschiedliche Schicksale miteinander und lässt so eine vergangene Zeit wieder auferstehen. Zur Einstimmung habe ich in die Playlist am Anfang des Buches reingehört. Sehr passend, weil es zu einem großen Teil ums Tanzen und den Charleston geht. Es sind allerdings auch Jazz und Tango-Stücke enthalten. Ich bin gut reingekommen und Anne Stern hat wieder einmal die Nuancen der Zeit wunderbar eingefangen. Thematisch konzentriert es sich auf andere Aspekte der Weimarer Republik als die Fräulein Gold-Reihe, aber es gibt auch Überschneidungen. So ist die Arbeit im Büro als Sekretärin sehr präsent oder es gibt einen Gigolo in seiner ursprünglichen Bedeutung. Ich habe ein Sachbuch zu der Zeit gelesen, daher wusste ich davon, aber ich mochte es sehr wie es in diesem Roman, dann zum Leben erweckt wurde. Das Buch hat sehr viele Perspektiven und für die Kürze des Buches waren es für meinen Geschmack fast schon zu viele, dennoch hat das Buch auch sehr viel richtig gemacht. Es sind so viele Realitäten in diesem Buch enthalten, denen ich manchmal gerne etwas mehr nachgegangen wäre. Das Büro ist eine ganz eigene Welt mit eigenen Regeln, durch die man gerade als Frau geschickt manövrieren muss. Marktplatz für Äffären und zukünftige Ehemänner und ich befürchte einige Klischees, die sich bis heute halten, sind aus dieser Zeit. Die Fabrik mit seiner Fließbandarbeit und den kläglichen Löhnen, die kaum ein gutes Leben ermöglichen und die Tanzpaläste, in denen einsame Frauen für Geld mit Männern tanzen und manchmal auch weiterführende Dienstleistungen erwerben können. Es ist unglaublich was Anne Stern alles in diese 350 Seiten gepresst hat. Das Buch erzählt von der Lust der Berliner zu feiern und das Tanzbein zu schwingen. Es erzählt von Drogen und den Abgründen, die überall lauern. Es erzählt von der Gefahr durch die SA und Nationalsozialisten. Es erzählt von Kriegstrauma, Abtreibungen und zurückgelassenen Kindern. Und dieses Buch erzählt von der Liebe zwischen Menschen aller Geschlechter. Mir war manchmal schwer ums Herz und dann war es wieder ganz leicht. Ich habe mit den Personen mitgefühlt und war investiert in ihr Schicksal. Manchmal hat es mich etwas überfordert und es hat eben auch etwas gedauert bis alles so richtig zusammengekommen ist und irgendwie war es auch nicht ausführlich genug. Das Ende ist recht offen gehalten, so dass eine Fortsetzung durchaus möglich wäre, aber die Hauptgeschichte, wie die Lindy Girls entstanden sind, ist zu Ende erzählt. In einem kurzen Nachwort gibt Anne Stern zusätzliche Informationen zum Hintergrund der Geschichte preis. Weiteres Zusatzmaterial bis auf die genannte Playlist am Anfang des Buches, die man über einen QR Code in der Klappbrischur erreicht, gibt es nicht. Fazit: Wieder ein tolles Roman aus der Feder Anne Sterns. Die 20er Jahre und seine Musik leben in diesem Buch auf. Die vielen Perspektiven haben das Buch allerdings auch etwas überladen. Dennoch von mir eine Empfehlung an alle, die gerne im Berlin der 20er Jahre sowie der Weimarer Republik abtauchen wollen.