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Besprechung vom 18.11.2021
Herz, mein besorgtes Herz!
Das erste Ich: Kurt Steinmanns Hinführung zum griechischen Lyriker Archilochos
Kann Dichtung töten? In Altertum erzählte man sich, die Verse des Archilochos hätten einen gewissen Lykambes in den Selbstmord getrieben, den Vater einer jungen Frau namens Neobule, die mit Archilochos verlobt gewesen war, bis Lykambes sie dann doch einem anderen zur Frau gab. Die Folge war ein veritabler lyrischer Shitstorm. Mehrfach begegnet einem in den Gedichten des Archilochos dessen große Liebe zu Neobule und seine von einer tiefen Kränkung zeugenden Wut auf den wortbrüchigen Schwiegervater in spe.
Liebe und Wut sind etwas Individuelle, ja Intimes - und Archilochos, der um 700 vor Christus auf der Insel Paros geboren wurde, ist der Erste, der sie als Autor in der ersten Person artikuliert. Zwar sind auch bei Homer etwa Hektor und Andromache einander auf eine Weise zugetan, die einem die Tränen in die Augen steigen lässt, während das Zürnen des Achill die Handlung der "Illias" vorantreibt. Doch erst bei Archilochos erzählt ein Individuum von sich selbst. "Ich bin Diener des Herrn Enyalios und bin kundig des lieblichen Geschenks der Musen", schreibt er, der als Sohn eines Adligen und einer Sklavin zwar hohe Bildung besaß, aber sein Lebensunterhalt als Soldat verdienen musste - Enyalios war ein Dämon, der schon zu Homers Zeiten mit Ares verschmolzen war, dem Gott eines Krieges, der mehr Leid denn Ehre bringt. Und tatsächlich, wo Archilochos von seinem Beruf berichtet, geht es ganz und gar unheroisch zu: Einmal wirft er lieber sein Schild weg, als den Heldentod zu sterben, ein andermal mokiert er sich über die großen Heerführer, die "lockenstolzen und unter der Nase ausrasierten".
Es ist nun genau die oben zitierte Selbstauskunft des Enyalios-Dieners und Musenkundigen, mit dem der Schweizer Altphilologe Kurt Steinmann seine Sammlung von 77 Gedichtfragmenten des Archilochos beginnen lässt, die er übersetzt und nun in einer neuen kommentierten zweisprachigen Ausgabe bei Reclam veröffentlicht hat. Das ist nicht nur im Hinblick auf das erschwingliche Format verdienstvoll. Steinmanns Übersetzung ist für eine Lyrikübersetzung ungewöhnlich nahe am Original, aber zugleich in einem modernen, schnörkellosen Deutsch gehalten. Obgleich er keine Versübersetzung vorlegt - er selbst nennt es eine "dokumentarische Prosaübertragung" -, findet Steinmann dabei durchaus einen lyrischen Ton. Überdies hat er die oft nur aus einzelnen Zeilen bestehenden Fragmente thematisch gruppiert, wodurch sie sich nicht selten gegenseitig erhellen und so auch eher kursorischen Lesern die ungeheure Bedeutung dieses Dichters erahnen lassen.
Die Wirkung des Archilochos auf die ihm folgenden Jahrhunderte war so groß, dass man sich mitunter gar vor ihr fürchtete. "Die Spartaner befahlen, die Bücher des Archilochus aus ihrer Stadt zu entfernen", schrieb etwa der Römer Valerius Maximus im ersten Jahrhundert, "weil sie von zu wenig Anstand und Schamgefühl zeugten." Andererseits hatte man dem Dichter schon um 250 vor Christus auf Paros ein auch archäologisch nachweisbares Heiligtum errichtet.
Bereits Jahrhunderte früher nennt Heraklit Archilochos in einem Atemzug mit Homer, später bezeichnet Platon ihn "den weisesten", und Aristoteles nimmt eine Achilochos-Stelle zum literaturtheoretischen Exempel, in welcher Lykambes seine Tochter beschimpft: "Kein Ding ist unverhofft", heißt es da, "und verschwören kann man nichts,/ noch sich wundern, seit Zeus, der Vater der Olympier, aus dem Mittag Nacht machte, da er das Licht verbarg der strahlenden Sonne. Feuchte Angst kam da über die Menschen./ Seither ist alles glaubhaft und alles zu erwarten." Die Rede ist hier von einer Sonnenfinsternis, sehr wahrscheinlich der vom 6. April 648 vor Christus, deren Zeuge der Dichter vormittags um 9 Uhr 54 auf der Insel Thasos im Norden der Ägäis gewesen sein dürfte - "das vielleicht sicherste Datum der ganzen frühen Literaturgeschichte", schreibt Steinmann.
Doch es ist auch dies ein Zeugnis mir poetischer Funktion. Die Ungeheuerlichkeit der Durchbrechung gewohnter, als eherne Gesetze empfundener Naturvorgänge dient dem Dichter hier zum Ausdruck seiner Erschütterung angesichts von Erfahrungen wie der des Wortbruchs des Lykambes. Doch neben, ja inmitten, der Empörung und des beißenden Spotts gibt es bei Archilochos auch einen Ton der gelassenen Lebensklugheit eines Menschen, der viel gesehen hat und weiß, dass Schicksal respektive Glück etwas ist, das sich immer wieder wendet: "Herz, mein Herz, von ausweglosen Sorgen aufgewühlt: Auf, wirf deinen Feinden entgegen die Brust, wehre dich! In Erwartung der Gegner tritt heran, ohne Wanken. Und weder wenn du siegst, frohlocke laut, noch wenn du besiegt wirst, jammere, im Haus dich hinwerfend, / sondern über das Erfreuliche freue dich und über das Schlimme klage / nicht zu sehr. Erkenne, was für ein Rhythmus die Menschen hält." Es ist dies die früheste Textstelle, an dem das griechische Wort Rhythmus bezeugt ist. ULF VON RAUCHHAUPT
Archilochos: "Gedichte". Zweisprachige Ausgabe.
Aus dem Griechischen und hrsg. von Kurt Steinmann.
Reclam Verlag,
Ditzingen 2021.
120 S., br.
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