Besprechung vom 03.11.2020
Im Kampf mit dem Schicksal
Ein raffiniertes Romanvehikel des frühen neunzehnten Jahrhunderts, leider mit ein paar Lackschäden in der Neuübersetzung: Benjamin Constants "Adolphe".
Ein junger Mann spannt einem Grafen die zehn Jahre ältere Konkubine aus und führt drei Jahre lang eine von der Gesellschaft verurteilte wilde Liebe mit ihr, bis das Erlahmen seiner Leidenschaft die Geliebte zugrunde richtet. Das ist der skandalöse Plot, den Benjamin Constants "Adolphe", 1816 veröffentlicht, erzählt. Der kleine Roman gehört zu den großen Texten der europäischen Romantik, die sich einem (und seltener einer) verzweifelt Liebenden widmen und die Abgründe der Gefühle in farbintensiver Dynamik malen. Denn obgleich der Held und Erzähler sich selbst als "schwachen Charakter" anklagt und unbarmherzig-analytisch auf sein passiv-empfindsames jüngeres Ego zurückblickt, entwickelt sich gerade wegen seines Mangels an Willenskraft und Handlungsfähigkeit ein um so reineres Gefühlsdrama.
In zehn Kapiteln berichtet der Band davon, wie Adolphe mit 22 Jahren sein Studium in Göttingen beendet und eigentlich zum Grand Tour aufbrechen sollte, um seine Erziehung zum jungen Mann von Welt zu vervollständigen; sein Vater, reservierter Minister eines Kurfürsten, hat Pläne für den vielversprechenden jungen Mann. Adolphe hingegen pflegt in einer deutschen Kleinstadt seine Unentschlossenheit: "Zerstreut, unaufmerksam und gelangweilt, wie ich war", trifft er auf Ellénore, die langjährige Lebensgefährtin des Grafen de P*, mit dem sie zwei Kinder hat. Sie stammt aus einer großen polnischen Adelsfamilie, die durch politische Unruhen um ihren Stand gekommen ist; aus ungeklärten Gründen hat sie sich auf eine uneheliche Beziehung eingelassen. Constants Porträt ist wenig schmeichelhaft: "Ellénore verfügte nur über einen durchschnittlichen Geist, aber ihre Gedanken waren gerecht, und ihre Äußerungen, die immer schlicht waren, beeindruckten manchmal durch die Vornehmheit und den hohen Rang ihrer Gefühle." Die "Wunderlichkeit" ihrer Situation stürzt sie jedoch in permanente Selbstentzweiung, sie befindet sich "in einem unaufhörlichen Kampf gegen ihr Schicksal". Kurz, die Dame ist "wie ein schönes Gewitter", und Adolphe gelingt es, sie zu verführen.
Das Buch "Adolphe" soll laut Vorwort zur dritten Auflage belegen, "dass ein Roman, dessen Handlung sich auf nur zwei Personen beschränkt und deren Befindlichkeit immer die gleiche wäre, durchaus des Lesens wert sein könnte". Das ist er, auch wenn besagte Befindlichkeit nicht angenehm ist: Rasch fühlt sich Adolphe beengt, und als Ellénore Graf und Kinder verlässt, um sich ganz dem neuen Geliebten zu widmen, ist ihm das bereits zu viel. Die Öffentlichkeit verurteilt die Liaison: Ellénore, die vorher schon einen schweren Stand hatte, ist als Rabenmutter geächtet, und Adolphe hängt der Ruf eines gewissenlosen Verführers an.
Ist er das nicht letzten Endes? Constant hat die Möglichkeit nicht nur in der erbarmungslosen Selbstbeschreibung des Helden angelegt, sondern auch im Urteil des fiktionalen Verlegers, der am Ende interveniert. Der längste Teil des Romans jedenfalls bringt im Grunde ein einziges Zögern zum Ausdruck: Adolphe möchte brechen, unternimmt einige Anläufe, bringt es aber nicht über sich, aus Feigheit und Pflichtgefühl, weil Ellénore es nicht verkraften würde.
Der liberale Politiker, Philosoph und Schriftsteller Benjamin Constant de Rebecque (1767 bis 1830), für den "Adolphe" das einzige literarische Werk von Rang bleiben sollte, nährt ihn aus eigener Erfahrung, auch wenn es zu kurz griffe, darin einfach den Spiegel seiner Liebschaften zu sehen. Das zeigt schon die Frage, die das neunzehnte Jahrhundert beschäftigte: Welche Affäre überhaupt? Prominente Kandidatinnen waren Germaine de Staël ("Minette") und Anna Lindsay, weitere Anwärterinnen Juliette Récamier und Charlotte von Hardenberg.
Verborgener sind literarische Einflüsse; anders als in vielen Texten der Empfindsamkeit und Romantik finden sich weder Lektürekult noch Zitierwahn. Mögliche Vorbilder sind "Caliste" von Isabelle de Charrière und die Romane von Mme de Staël; freilich scheinen die Gefühlsanalysen eher der Moralistik und dem libertinen Roman zu entstammen. In letztere Richtung weist, dass bei Constant Romantik nicht notwendig Idealismus und Enthaltsamkeit meint; anders als bei vielen deutschen Figuren (Werther) verhindern nicht äußere Umstände oder innere Tugendhaftigkeit die Erfüllung, es kommt zur erotischen Begegnung. Die Katastrophe resultiert rein aus der Dynamik der Gefühle, die freilich, Constant sagt es explizit, sozial geprägt sind. Für die deutsche Empfindsamkeit und Romantik undenkbar: ein Beleg dafür, dass im Nachbarland gängige literarische Konzepte anderes meinen als bei uns.
Schade ist, dass die Ausgabe ohne Vor- oder Nachwort zu Autor und Werk auskommt; so bekannt ist der Kontext nicht, und Constant führte ein spannendes Leben. Erich Wolfgang Skwara hat für seine Neuübersetzung, die sich an der von Eva Rechel-Mertens (1970) messen lassen muss, einen überzeugenden Ton gefunden. Es fallen jedoch Schnitzer auf, was bei einem Rousseau- und Flaubert-Übersetzer verwundert: "manchmal nahm ich mit ihr die Sprache der Liebe auf, aber diese Empfindungen und diese Sprache glichen den fahlen und entfärbten Blättern, die auf übrig gebliebenen Grabespflanzen dahinschwindend auf den Ästen eines entwurzelten Baumes wachsen." Es wird ein schöner Satz entstellt: Gemeint sind "Blätter, die dank einem Rest von fortlebendem Wachstum noch kraftlos aus den Zweigen eines entwurzelten Baumes sprossen" (Rechel-Mertens). Skwara hat "végétation" nicht mit Wachstum, sondern mit "Pflanzen" übertragen, ähnlich wie er schreibt, der Held würde die Geliebte "missbrauchen", statt sie zu täuschen ("abuser"). Beide Male existiert die gewählte Bedeutung, ergibt aber keinen Sinn.
Bedauerlich ist zudem Unsicherheit betreffs der sozialen und historischen Semantik. Die bestimmen Kontext (hier die besseren Kreise des neunzehnten Jahrhunderts) und Stilhöhe eines Werks, in unserem Fall ein romantischer Text mit klassischem Erbe (Constant verehrt Racine). "Jeunes gens" meint dann, wie oft im gehobenen Französisch, keine "jungen Leute", sondern junge Männer; wenn ein Mann aus gutem Hause einmal Konflikte ganz handfest regeln will ("me battre"), wird er sich nicht "prügeln", sondern duellieren; und dreimal nein: In diesen Kreisen "macht" man nicht "Schluss", wenn man mit jemandem bricht ("rompre"). Ausrutscher im guten Ton sind leider ein bisschen wie Kratzer im Lack: Man sieht sie besonders, wenn sie vereinzelt auftreten.
Es ist inzwischen ein wenig still um "Adolphe" geworden, trotz einer witzigen Szene in "Der Vorname" (2012), dem Film von Alexandre de La Patellière und Matthieu Delaporte: Dort hält der Roman als Entschuldigung dafür her, dass ein Pariser Jude sein Kind ausgerechnet Adolphe nennen möchte. Daher ist es, von besagten Mängeln abgesehen, begrüßenswert, dass der Roman in der "Französischen Bibliothek" nun in einer handlichen Ausgabe wieder verfügbar ist.
NIKLAS BENDER
Benjamin Constant: "Adolphe". Roman.
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Erich Wolfgang Skwara. Matthes & Seitz, Berlin 2020. 176 S., geb., 18,- [Euro].
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