Schon Kleinigkeiten können das Leben eines Menschen auf den Kopf stellen. In diesem Roman ist es ein Gemälde, das dem Protagonisten, einem Rechtsanwalt, nicht nur einen neuen Fall verschaffte, sondern ihn auch tief beeindruckte. Darauf ist eine nackte Frau abgebildet, die eine Treppe hinabsteigt. Ihr Mann hatte das Bild in Auftrag gegeben, nun aber zerstört. Das verletzte den Maler des Bildes ebenso, wie Irene, das Modell, ihren Mann verletzt hatte. Sie hatte den Auftraggeber verlassen und war zum Maler übergelaufen. Zu allem Überfluss verliebte sich der noch junge Rechtsanwalt nun auch noch in die Frau. Doch sie missbrauchte ihn nur für ihre Flucht vor den Männern.Jahrzehnte später entdeckt der Ich-Erzähler das Bild in Sydneys Art Gallery wieder, nachdem er in der größten Stadt Australiens einen geschäftlichen Auftrag erledigt hatte. Stutzig geworden bittet er einen Detektiv, nach dem Eigentümer des Bildes zu suchen und gibt sich seiner, mit diesen Fall zusammenhängenden, Vergangenheit hin.Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil widmet sich den Erinnerungen und der Entdeckung des verschollen geglaubten Bildes, im zweiten sucht der Protagonist die auf dem Bild abgebildete Frau auf und im dritten Teil malen sich die todkranke Irene und der inzwischen verwitwete Rechtsanwalt aus, wie ihr Leben anders hätte verlaufen können.Mir hat der zu Beginn sehr humorvolle Roman recht gut gefallen. Es macht einfach Spaß, wenn jemand nach Jahrzehnten mit einem Augenzwinkern auf sich selbst zurückschaut. Auch fand ich es interessant, als die zwei Menschen, die sich nur kurz begegnet waren, nach einem erfüllten Leben erneut aufeinandertreffen und erkennen, dass sie nichts voneinander wissen."Mein Leben fühlt sich wie eine Vase an, die auf den Boden gefallen und in Stücke zersprungen ist", gesteht Irene, während der namenlose Erzähler davon träumt, wie anders sein Leben mit ihr zusammen verlaufen wäre. Diese Träume begleiten auch den dritten Teil des Buches. Teilweise sind sie von der Wirklichkeit überlagert und verwirrten mich als Leserin: sind sie nun noch in Australien oder fahren sie tatsächlich durch die Vereinigten Staaten von Amerika? Dieses Nachsinnen über das gelebte Leben und das Versäumte, über die Einstellungen zur Arbeit und zur Familie gehören wohl in die Zeit des höheren Lebensalters. Ebenso wie der unvermeidliche Tod am Ende dieses Buches.Bernhard Schlink, 1944 geborener Sohn eines Theologenehepaares, verbrachte seine Kindheit in Heidelberg. Er ist promovierter Jurist und arbeitete auch für die Bundesregierung. Seinen ersten Roman "Selbs Justiz" (1987) schrieb er noch zusammen mit Walter Popp als Co-Autor. Die Folgebände der Trilogie verfasste er schon allein. Viele seiner zahlreichen Bücher waren Bestseller und handeln oft von Recht und Gerechtigkeit. Angeblich hat er in einem Interview nach der Motivation seiner Schriftstellertätigkeit geantwortet: "Ich schreibe aus demselben Grund, aus dem man auch liest: Man will nicht nur ein Leben leben."Auf jeden Fall versteht er sein Handwerk: er schreibt mitreißend, hält die Spannung aufrecht und spricht auch die Gefühle an. Seine Bücher sollte man sich nicht entgehen lassen!