Besprechung vom 29.06.2024
Im Irrgarten der Südsehnsucht
Mit seinem Roman "Austral" malt Carlos Fonseca ein düsteres Bild lateinamerikanischer Erinnerungskultur
Ein Wort, kurz und doch schillernd, aber auch etwas beliebig ausgewählt für einen dichten und vielschichtigen Roman: Der Titel "Austral", den der junge mittelamerikanische Autor Carlos Fonseca seinem 2022 veröffentlichten dritten großen literarischen Opus zugedacht hat, ist so universal, dass er auch bei den Übersetzungen wie in der nun erschienenen deutschen Fassung Verwendung findet. "Austral" verweist auf den Süden und die Südhalbkugel. Fonseca beschreibt, wie der Süden in Lateinamerika auf sein Roman-Personal, vor allem Europäer, einen merkwürdigen Sog ausübt, für die meisten mit unheilvoller Wirkung: Sie enden in geistiger Umnachtung, verlieren ihre Sprache oder sterben.
Hauptakteur ist ein gewisser Julio Gamboa, der viele Züge des Autors trägt. Beide sind in Costa Rica geboren, beide Literaturprofessoren, Julio lehrt an einer Universität im amerikanischen Cincinnati, Fonseca im englischen Cambridge. Eigentlich könnte dieser Julio in der Ichform auftreten, doch das verhindert ein erzähltechnischer Kniff, der das Rückgrat des Romans bildet. Fonsecas Alter Ego Julio wird der unvollendete Roman einer Freundin aus Jugendtagen zugespielt, mit der testamentarisch von der Autorin verfügten Bitte an ihn, den Text zu vollenden. Sie hatte nach einem Schlaganfall an Aphasie gelitten und ist gestorben. Ihr Roman ist weitgehend in der Ichform geschrieben.
Zweimal Ich, das hätte die Geschichte, die sehr schnell ein beachtliches Maß an Komplexität erreicht, noch unübersichtlicher werden lassen. Immerhin sind die zum Teil recht langen Passagen aus dem unvollendeten Werk der fiktiven, aus England stammenden jüdischen Schriftstellerin Aliza Abravanel in Kursivdruck vom übrigen Text abgehoben. Julio Gamboa reist in den Süden, in das argentinische Humahuaca, wo die Autorin des vorgeblichen Romanfragments in einer Künstlerkolonie ihre letzte Lebenszeit verbracht hat. Dort will er sich das Manuskript aushändigen lassen und Erinnerungen wachrufen an die Jahre, in denen er zusammen mit Aliza Lateinamerika durchstreift hat.
In dem Roman besucht der fiktive Anthropologe Karl-Heinz von Mühlfeld in Paraguay die 1886 von dem Antisemiten Bernhard Förster und dessen Frau Elisabeth Nietzsche, der Schwester des Philosophen, zusammen mit deutschen Ausreisewilligen gegründete Siedlung Nueva Germania (Neu-Germanien), in der eine arisch reine Gemeinschaft entstehen sollte. Von Mühlfeld will erkunden, warum das Experiment scheiterte. Obwohl die Siedlung überlebte - sie existiert heute noch -, war das "arische" Abenteuer spätestens zu Ende, als Förster, vom Alkohol zerrüttet, 1889 Selbstmord beging.
Ausgerechnet in Nueva Germania stößt von Mühlfeld auf das letzte Individuum einer indigenen Ethnie, deren übrige Mitglieder durch die von den Deutschen eingeschleppten Krankheiten dahingerafft wurden. Dem Vater der Romanautorin fallen die Aufzeichnungen des Anthropologen in die Hände, er reist daraufhin nach Paraguay, um den Indio zu treffen, doch der ist auch dem Alkohol verfallen. Und von Mühlfeld? Der hat über seinen Forschungen den Verstand verloren, er siecht in einem Sanatorium in der Schweiz dahin und stirbt dort schließlich.
Fonsecas Roman "Austral" beschreibt eine Art Fluch, der über der Sehnsucht seiner Personen nach dem Süden liegt. Es ist die Beschwörung eines unaufhörlichen Verlusts, des Verschwindens von Geschichte, Sprache und Erinnerung. Julio begibt sich schließlich nach Guatemala, wo sich einst die Lebenswege von ihm und Aliza getrennt haben. Sie war in Lateinamerika geblieben, er hat sich in Nordamerika eingerichtet. In Guatemala entdeckt er wundersamerweise einen Menschen, der das verwirklicht, was ihm als Mittel gegen den Verlust der Erinnerung und als Erlösung erscheint. In einem Dorf, das während des Völkermords unter der Diktatur von Efraín Ríos Montt zerstört wurde, hat der Mann, ein gewisser Juan Paz, ein "Gedächtnistheater" mit Bildern, Gegenständen und Aufzeichnungen diverser Art aufgebaut, für das es sogar ein historisches Vorbild gibt: das "Theater der Erinnerung" des italienischen Renaissance-Gelehrten Giulio Camillo, ein Gedächtnisgebäude, "in dem das gesamte Wissen der Welt versammelt" sein sollte. In diesem Erinnerungsraum versammelt Fonseca schließlich fast sein gesamtes Personal.
In dem von Sabine Giersberg zuverlässig ins Deutsche übersetzten Roman zeichnet Fonseca ein düsteres Bild von Lateinamerika. Der Leser muss bereit sein, sich in einen Irrgarten hineinführen zu lassen, in dessen Dickicht aus historischen wie fiktiven Episoden und Figuren, dem unentwegten Wechsel der Örtlichkeiten und Zeitebenen, unzähligen Zitaten und Andeutungen er sich leicht verheddert und aus dem er schwer wieder herausfindet. Fonseca hat unglaublich viel eigenes Wissen in den Text hineingepackt. Sein Erzählstil ist eloquent, präzise und bisweilen von poetischer Dichte. Es schimmert freilich immer wieder der Literaturprofessor hindurch.
Der unvollendete Roman der Aliza ist derart umfangreich und komplex, dass allein er schon als komplettes Werk tragfähig wäre, allenfalls durch eine kurze Rahmenhandlung ergänzt. "Austral" wie auch die beiden bislang nicht ins Deutsche übersetzten Vorgängerromane ("Museo animal" und "Coronel Lágrimas") bieten so viele Denkanstöße und ein ebenso umfangreiches wie originelles Themenspektrum, dass der siebenunddreißigjährige Carlos Fonseca als eine große Hoffnung im derzeit dahindümpelnden lateinamerikanischen Literaturbetrieb gelten kann. JOSEF OEHRLEIN
Carlos Fonseca: "Austral". Roman.
Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Verlag Wagenbach, Berlin 2024. 192 S., Abb., br.
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