Besprechung vom 09.01.2022
Das Reich der Sterne
Was erklärt den Erfolg des Science-Fiction-Autors Cixin Liu? Seine Geschichten vom interstellaren Weltenretter China liebt auch Barack Obama. Jetzt werden sie als Comic adaptiert.
Die Sonne steht vor ihrem Ende. Und der Planet muss wandern. Doch das Ziel, Proxima Centauri, die neue Heimat für die Menschheit, liegt mehrere Lichtjahre entfernt. Also installiert die Menschheit Tausende überdimensionale Triebwerke, die "Schweißbrenner Gottes", und begibt sich auf die Reise durch den Kosmos. Hundert Generationen dauert sie an. Turbulenzen lösen Naturkatastrophen auf der wandernden Erde aus, die Menschheit flüchtet sich vor Wirbelstürmen, Säureregen, Tsunamis und Kometenhagel unter die Oberfläche.
Das ist Zukunft, die sich Cixin Liu für seine Kurzgeschichte "Die wandernde Erde" ausgemalt hat. Man folgt darin einem namenlosen Protagonisten auf dessen Weg durch unterirdische Metropolen, Bürgerkriege und eine unglückliche Ehe. Für den Namenlosen endet dieser Weg mit seiner Hinrichtung, da er sich nicht der Revolution gegen die interstellare Reise anschließen will - und mit der Erkenntnis, dass seine Erde noch immer wandert.
"Die wandernde Erde", erschienen im Jahr 2000, ist wohl die bekannteste Kurzgeschichte des chinesischen Science-Fiction-Autors - und so deprimierend wie faszinierend: eine Menschheit, die sich gegen ihren eigenen Untergang sträubt und ihn dennoch beschleunigt. Denn die "Schweißbrenner Gottes" werden mit natürlichen Ressourcen der Erde betrieben. Um die Reise durch die Sterne voranzutreiben, werden die Gebirge Asiens nach und nach abgebaut. Parallelen zur Klimakrise der Gegenwart liegen nahe. Die Nachhaltigkeit des eigenen Planeten (und die anderer) ist ein wiederkehrendes Motiv in Lius Werken, die Natur und ihr Zusammenspiel mit dem Menschen.
Vierzehn der Kurzgeschichten Lius werden seit einiger Zeit vom Splitter Verlag als Graphic Novel adaptiert, geschrieben und gezeichnet von sechsundzwanzig verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern aus Europa, China und den Vereinigten Staaten. Das Projekt ist als transnationale Kooperation gedacht und auf mehrere Jahre angelegt - und erinnert damit an die Installation der Triebwerke in der "wandernden Erde": Auch deren gigantische Lichtkegel konnten nur durch die Zusammenarbeit mehrerer Nationen entstehen.
Doch bei aller Kooperation der Nationen steht in den Geschichten Cixin Lius nie außer Zweifel, wer der eigentliche und größte Weltenretter ist: China. Auch in der Verfilmung der "Wandernden Erde" von 2019 ist das eideutig. Hierzulande ist sie bei Netflix zu sehen - und zählt mit 700 Millionen Dollar Einspielergebnis zu den erfolgreichsten chinesischen Filmproduktionen überhaupt.
Lius Literatur ist ein Hybrid aus Wissenschaft und patriotischer Science-Fiction. In der westlichen Popkultur ist man seit Generationen gewohnt, dass die Heldenrolle der Zukunftsmacht den Vereinigten Staaten zufällt - Liu erzählt einen anderen Mythos.
Und wenn man in der "Wandernden Erde" dann dem namenlosen Protagonisten auf seinem Weg folgt, bleibt die Erzählperspektive doch immer distanziert. Lius Figuren wirken emotional entkoppelt von einer Welt, die längst aus den Fugen geraten ist. Verstärkt wird das durch die großflächigen Bilder, die der Comic aufzieht, teils wartet er mit ausklappbaren Seiten auf, so dass sich insgesamt vier Paneels zu einem einzigen großen Panoramabild zusammensetzen: Bilder, die den Weltraum und die schiere Größe der Planeten zeigen und jedes Individuum als nichtig erscheinen lassen.
Ähnlich verhält es sich mit den unterirdischen Städten, in denen es nur noch eine Masse gibt. Es wirkt, als habe sich Liu ein Vorbild an den gigantischen Städten seiner Heimat genommen, als sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch in seinen fiktionalen Welten ein Sozialkredit-System eingeführt wird. Auf der "wandernden Erde" entscheidet das Los einer nicht näher erklärten Koalition, welches Paar ein Kind zeugen darf und welches nicht. Lius Geschichten zeigen all das, ohne es weiter zu kommentieren - es ist, wie es ist.
Die jüngste Adaption seiner Stoffe ist "Der Dorflehrer", sie dreht sich um die Frage, ob man Leben auf anderen Planeten zu eigenen Zwecken opfern darf. In "Meer der Träume" tritt dagegen ein kosmisches Wesen auf, das die Meere der Welt trockenlegen will. Um eine von der Dürre bedrohte Erde zu retten, erfindet eine Wissenschaftlerin in "Yuanyuans Blasen" Seifenblasen, die ganze Städte umschließen können. Cixin Lius futuristische Welten erleben oft Naturkatastrophen oder aber - wie im Falle von "Die drei Sonnen" - das Auftauchen einer neuartigen außerirdischen Kultur.
Doch interessanter als Chinas Erstkontakt mit den Aliens ist das politische Korsett, in das Liu diesen Roman steckt: Deutliche Kritik an der Gleichschaltung von Forschung und Ideologie, einem Nachhall der Kulturrevolution Maos, durchzieht alle seine Bücher. Auf Lius wandernder Erde entsteht eine Bewegung, die nicht nur die Wissenschaft, sondern auch das Projekt der Reise infrage stellt. Der namenlose Protagonist schließt sich der offiziellen Armee an, seine Frau hingegen dem Widerstand. Autobiographische Momente, möglicherweise: Lius eigener Vater hatte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Kommunisten angeschlossen, sein Onkel den Nationalisten. Was aus diesem Onkel wurde, hat Liu bis heute nicht erfahren. Viele seiner Charaktere bleiben mit ihren wissenschaftlichen und menschlichen Fragen allein, die Fragen unbeantwortet.
Im Jahr 2019 sorgte Cixin Liu für Schlagzeilen, als er öffentlich erklärte, dass China den inhaftierten Uiguren nur helfe, er verteidigte im Gespräch mit dem "New Yorker" die Umerziehungslager für die islamische Minderheit und sprach davon, dass das chinesische Volk der Demokratie nur einen geringen Stellenwert einräume. Einen Autor von seinen Werken zu trennen, ist eine prekäre Angelegenheit. Es fällt auf, wie oft in Lius Geschichten das Individuum an Bedeutung verliert. Es ist die Masse, die Gewicht hat. Der Zweck heiligt die Mittel, Konformität, erzwungen durch ein Kollektiv, setzt sich durch. Und die Masse wird letzten Endes auch unterjocht.
Doch aus diesen Werken und aus den jetzt nach und nach erscheinenden Comic-Adaptionen Lius das Demokratieverständnis des Autors abzuleiten und daraus wiederum seine Haltung zum chinesischen Regime von heute - das wäre wohl doch zu einfach. Oft drehen sich Lius Geschichten nämlich einfach um familiäre Schicksale, spielen mit simplifizierten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Andererseits schreibt Cixin Liu auch nicht nur reine Unterhaltungsliteratur. Dafür sind seine Geschichten zu melancholisch und zu dystopisch. Wie stark man die politischen Facetten seiner Bestseller gewichtet, bleibt einem letztlich selbst überlassen. Da ist das Gespür für die unmittelbare Bedrohung der Umwelt, aber da sind auch die Feier der Masse und die Melancholie des Individuums.
Doch trotz - oder vielleicht gerade wegen - der politischen Inhalte hat es Lius Science-Fiction zu internationalem Ruhm gebracht. Er ist einer der Lieblingsautoren des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama. Er bringt futuristische Welten näher, indem er sie mit der heutigen Klimakatastrophe verbindet - und richtet damit wiederum den Blick auf diese sehr reale Katastrophe. Aus der Raumfahrtnation China ist in Cixin Lius Werken längst ein Reich geworden, das nach den Sternen greift, weit über den Mond hinaus. Im Juni steht die nächste Comic-Adaption eines seiner Werke an, "Die Versorgung der Menschheit". MARTIN SENG.
Im Splitter Verlag sind bislang erschienen: "Der Dorflehrer" (104 Seiten, 22 Euro), "Die Wandernde Erde" (128 Seiten, 25 Euro), "Meer der Träume" (96 Seiten, 19,80 Euro) und "Yuanyuans Blasen" (72 Seiten, 17 Euro). Lius Geschichten erscheinen auf Deutsch im Verlag Heyne.
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