»Ich wusste nicht, ob daraus der beste oder der schlimmste Text über mich werden würde. « Roger Federer.
2006 reiste David Foster Wallace im Auftrag der New York Times nach Wimbledon, um über das dortige Tennisturnier zu schreiben. Wallace, selbst in seiner Jugend ein erfolgreicher Tennisspieler, traf Roger Federer - für ihn eine fast göttliche Begegnung. David Foster Wallace' Reportagen sind Herzstücke seines großen Werks. 2006 traf Wallace Roger Federer und führte ein Interview mit dem damals noch nicht ganz so berühmten Schweizer, dessen »übermenschliche Karriere« langsam Fahrt aufnahm. Herausgekommen ist ein Text, der Federers Talent beschreibt, der aber auch wie immer bei Wallace die scheinbaren Nebensächlichkeiten des Turniers in den Blick nimmt. Dieser Text ist berühmt geworden - nicht zuletzt, weil die Tennisspielerin und Autorin Andrea Petkovic ihn wie die anderen Tennistexte von Wallace mit Nachdruck immer wieder empfiehlt.
Besprechung vom 04.12.2021
Wie kein anderer
Der "Größte aller Zeiten"? Beim Blick auf die Zahlen mag Roger Federer von Novak Djokovic überflügelt worden sein, seine Anziehungskraft aber ist unübertroffen. Ein neues Buch kommt dem Tennisphänomen sehr nahe.
Von Thomas Klemm, Frankfurt
Das Welttennis ist auf die Ziege gekommen. Dem Tier kann kaum ein Sportinteressierter entkommen, der in den sozialen Netzwerken unterwegs ist: hier eine Twitter-Nachricht, die mit einem Ziegen-Emoji endet, dort ein Facebook-Kommentar, in dem das Bildchen eingesetzt wird wie ein Ausrufezeichen. Dahinter verbirgt sich ein teilweise erbittert geführter Streit zweier Fangruppen, in dem es darum geht, wer der größte Tennisspieler aller Zeiten ist. Denn Goat, das englische Wort für Ziege, ist das gängige Kürzel für "Greatest Of All Time".
Diejenigen, die nur auf die Zahlen schauen und/oder serbischen Ursprungs sind, halten es mit Novak Djokovic. Kann man so sehen, hat der Serbe doch Roger Federer und Rafael Nadal in vielen Statistiken überflügelt. Und dennoch gibt es massenhaft Profikollegen und Tennisfans, die Federer für den Größten halten, den der Tennissport hervorgebracht hat. In puncto Einnahmen aus Merchandising und Sponsoring reicht laut Forbes kein anderer Sportler der Welt an den Schweizer und seine Marke RF heran.
Berücksichtigt man weiche Faktoren, beispielsweise den Erfolg am Buchmarkt, gebührt Federer das Ziegenbildchen. Über keinen Tennisspieler (und vermutlich keinen anderen Sportler) sind in den vergangenen Jahren so viele Biographien und Bildbände, Elogen und Analysen, Fanbücher und Expertisen erschienen (siehe Kasten). Und jetzt hat auch noch Christopher Clarey, der seit fast dreißig Jahren für die New York Times über Tennis berichtet, nachgelegt. Bei "Roger Federer. Der Maestro" baut der Journalist auf die Arbeiten seiner Vorgänger auf, stellt sie aber weitgehend in den Schatten.
Dank immens vieler Gespräche mit früheren und heutigen Trainern, ehemaligen und jetzigen Fitnesscoaches, alten und aktuellen Konkurrenten wie Marat Safin, Pete Sampras und Djokovic und vor allem mit Federer selbst ist eine Biographie herausgekommen, die des Ausnahmekönners würdig ist. Zumal sich das Buch nicht nur um Federer dreht, sondern auch eine kleine Geschichte des Herrentennis der vergangenen 25 Jahre darstellt. Über kleinere Schwächen und Eitelkeiten, die sich Clarey erlaubt, liest man geflissentlich hinweg und vertieft sich lieber in das Phänomen Federer.
Der Spielkünstler
Seit Federer spielt, staunen Tennisfans in aller Welt oder schmelzen gar bewundernd dahin: Wie fließend er sich unter größter Körperspannung bewegt, wie beim Ballett! Wie harmonisch er das Racket schwingt und schier mühelos Schläge zeigt, von denen andere bestenfalls träumen! Vor 15 Jahren hat der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace in einer essayistischen Eloge einen unvergleichlich hohen Ton gesetzt, der seither viele Federer-Bücher in ähnlich klingender Weise durchzieht. Federers Anziehungskraft hat laut Wallace "mit den anscheinend grenzenlosen Möglichkeiten eines menschlichen Körpers" zu tun. Auch Clarey kann nicht ohne Lob, Preis und manchmal Überschwang. Eine Armada von Tennisgrößen lässt er die Fähigkeiten des Schweizer Genies rühmen. Die originellste Lobhudelei kommt von Federers früherem Konkurrenten Andy Roddick: "Es gibt einfach keinen Grund, ihn zu hassen, das ist ziemlich nervig." Für den einst besten Schweizer Spieler Marc Rosset basiert Federers außergewöhnliche Begabung vor allem auf Reaktivität, "also der Fähigkeit des Gehirns, visuelle Reize zu interpretieren". Wo andere hektisch werden, erlebt ein Ausnahmesportler alles wie in Zeitlupe.
Clarey analysiert, wie Federer den Treffpunkt des Balles einen Augenblick länger fixiert als andere Spieler und somit "einen Schlag wirklich und wahrhaftig zu Ende" führt. Lockerheit und Anmut können aber auch zum Fluch werden, hat Federer erkennen müssen: nämlich, wenn er verliert. Dann fragten die Leute, warum er sich nicht mehr angestrengt habe. Außer Acht lassen sie dabei, wie intensiv, durchdacht und diszipliniert Federer im Verborgenen rackert. Dafür zuständig ist Pierre Paganini, seit vielen Jahren sein Fitnesscoach. "Man muss verdammt hart arbeiten, um ein so schöner Tänzer zu werden", sagt Paganini. Nicht zuletzt dank seines ausgeklügelten Trainingsprogramms für Ausdauer, Kraft und Regeneration kann Federer noch mit 40 Jahren und nach drei Knieoperationen an ein weiteres Comeback 2022 denken.
Der Unerbittliche
Federer begegnet allen Menschen höflich und freundlich, beantwortet nicht nur bereitwillig Fragen, sondern interessiert sich auch für seine Gesprächspartner. Er selbst bezeichnet sich Clarey gegenüber als "einen ganz normalen Typen", der nur besonders gut Tennis spielen kann. Hinter all den geschliffenen Umgangsformen steckt jedoch eine Unerbittlichkeit, wenn es ums sportliche Vorankommen geht. Diese Eigenschaft, seine Ziele mit aller Macht zu verfolgen und auch freundschaftliche Beziehungen hintanzustellen, zeigte er schon als Teenager. Als Federer seinem Zahnarzt während der Behandlung erzählte, dass er die Schule verlassen und sich als Tennisprofi versuchen wolle, fragte der Herr Doktor: "Das ist alles? Nur Tennis?" Zu diesem Zahnarzt ging Federer nie wieder. "Mit solchen Menschen möchte ich mich nicht umgeben", wird er zitiert.
Auch wenn es darum ging, die Zusammenarbeit mit einem Trainer zu beenden, zeigte sich Federer gnadenlos freundlich. Wer ihn nicht mehr weiterbringen konnte, hat ausgedient. Als er als Jungprofi einen Trainer für die Profitour brauchte, ließ er seinen langjährigen Mentor Peter Carter links liegen und holte stattdessen den erfahreneren Peter Lundgren ins Team. Kaum hatte Federer 2003 erstmals Wimbledon gewonnen, musste auch Lundgren gehen, nicht viel später ereilte das Schicksal Tony Roche. Schon als 19-Jähriger hatte Federer die Absetzung des Schweizer Davis-Cup-Kapitäns Jakob Hlasek vorangetrieben. Ebenso kompromisslos geht er in anderen Belangen vor: Mal trennte er sich kurzerhand von seiner Agentur IMG, mal von seinem Ausrüster Nike. "Ich glaube, die Leute wissen nicht, was für ein Killer Roger wirklich ist", zitiert Clarey den früheren Tennisprofi James Blake, der mit Federer gut bekannt ist.
Der Heißsporn
Sollte Federer eines nicht so fernen Tages mit dem Tennis aufhören, würde er in Erinnerung bleiben als einer, der während des Matches keine Miene verzieht und nur bei Siegerehrungen gelegentlich heult. Was kaum jemand mit dem scheinbar coolen Maestro künftig verbinden wird, ist sein Hitzkopf. Als junger Spieler sei er "ein ganz schlechter Verlierer" gewesen, sagt Federer. Lundgren warf ihn mal aus der Trainingsgruppe, weil er faul war und sich schlecht benahm. Als der Jungspund im Schweizer Leistungszentrum in Biel den Schläger wütend von sich warf und dadurch einen neuen Vorhang beschädigte, musste er zur Strafe eine Winterwoche lang frühmorgens die Sportanlagen inklusive Toiletten putzen. "Emotional war Roger instabil", sagt sein ehemaliger Physiotherapeut.
Hilfe fanden Eltern und Trainer 1998 beim ehemaligen Fußballprofi Christian Marcolli, der als Leistungspsychologe arbeitet. "Es ging darum, das Feuer zu beherrschen, nicht, es auszulöschen - darum, die lodernden Flammen der Ablenkung in einen gleichmäßig brennenden Antrieb umzuwandeln", schreibt Clarey. 2001 gelang dies endlich, aber erst nach zwei Tiefpunkten im Frühjahr: In Rom schrie Federer während eines Matches gegen Safin herum und zertrümmerte seinen Schläger, dann machte er in Hamburg dasselbe. Als er sich danach auf Video sah, sagte er sich: "Das sieht einfach nur bescheuert aus." Außerdem erschöpften ihn seine Ausbrüche.
Binnen weniger Wochen verwandelte sich Federer in einen Spieler, der innerlich weiter brodelt, nach außen hin aber gelassen bleibt und damit Erfolg hat: In Wimbledon bezwang er den damaligen Seriensieger Sampras sensationell in fünf Sätzen. Sein Temperament zu zügeln, so heißt es, ist wohl die größte Leistung in Federers Karriere. Selten kommt es zu Rückschlägen wie einem zertrümmerten Schläger, pampigen Bemerkungen zum Schiedsrichter oder missmutigen Kommentaren in Pressekonferenzen.
Auf dem Platz zeigt sich Federer von 2008 an oft verletzlich. Zunächst in den Duellen mit Nadal, dessen Spielweise ihm nicht liegt, dann in den Matches mit Djokovic, der ihn zu einem Spiel "wie in Handschellen" zwingt. Federer vergibt in bedeutenden Spielen oft Matchbälle und verliert. Diese Niederlagen hätten die Zuneigung der Tennisfans noch gesteigert, erklärt Andy Roddick in Clareys Buch: "Um sich mit jemandem zu identifizieren, wie das Publikum es mit Roger tut, braucht es das Gefühl, dass die betreffende Person verwundbar ist."
Was bleibt?
Ob und in welcher Form Federer wieder auf den Tennisplätzen dieser Welt zu sehen sein wird, steht in den Sternen. Doch wie auch immer die für Sommer 2022 angepeilte Rückkehr ausgehen wird - man muss sich den Schweizer als glücklichen Menschen vorstellen. An Federer fasziniert seinen Landsmann Rosset am meisten, dass er stets immer in der Gegenwart lebe. "Er hat ein großes Talent, Dinge so zu nehmen, wie sie kommen. Er lebt einen Moment, kostet ihn voll aus, genießt ihn, beendet ihn und geht dann zum nächsten über."
Dazu passt, dass es Federer stets wichtiger war, Rekorde zu brechen, als sie zu halten. Wenn sich nun einer wie Djokovic zum erfolgreichsten Spieler aufschwingt, kann Federer gut damit leben. Die ganze Debatte um den "Größten aller Zeiten" ist sowieso müßig. Allein schon deshalb, weil die Tennisspieler früher gar nicht so oft angetreten sind wie die heutigen Profis. So waren bis 1968 Berufsspieler von den Grand-Slam-Turnieren ausgeschlossen, danach sparten sich viele Tennisstars der Siebziger- und Achtzigerjahre die weite Reise zu den Australian Open und sogar nach Paris. Zudem ist die Ziegenfrage nach dem Größten aller Zeiten auch deshalb nicht zu beantworten, weil niemand weiß, wer noch kommt.
Roger Federers historische Größe zeigt sich für Clarey ironischerweise nicht zuletzt in den Niederlagen, die er in den Wimbledon-Endspielen 2008 gegen Nadal und 2019 gegen Djokovic erlitt: "Es ist grausam, aber unvermeidlich, dass Federer als einer der erfolgreichsten Tennisspieler und Sportler überhaupt auch dafür in Erinnerung bleiben wird, zwei der besten Matches verloren zu haben, die je gespielt wurden, vielleicht sogar die beiden besten Matches, die er je gespielt hat." Ein Satz, der wie das Schlusswort einer großen Karriere klingt. Davon gibt es so einige bei Christopher Clarey. Sein Buch ist wie ein Denkmal.
Christopher Clarey: Roger Federer. Der Maestro.
Verlag Edel Sports, Hamburg 2021, 480 Seiten
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