Besitzen wir die Dinge - oder besitzen sie uns? Warum häufen wir so viel an und warum fällt es uns oft so schwer, uns von Dingen zu trennen?
Ausgehend von dieser Frage legt der Essay von Elke Brüns die existenzielle Dynamik frei, die unser Leben von den ersten bis zu den letzten Dingen bestimmt - ein Umgang, der immer auf die Entscheidung zwischen Behaltenwollen oder Loslassenmüssen hinausläuft.
Besprechung vom 06.11.2024
Das kann weg, oder?
Elke Brüns über unser Verhältnis zu Dingen
Ein Buch über "Dinge" also. Das klingt nach einem weiten Feld, und die Lektüre zeigt: Das ist ein weites Feld. Dinge - man könnte auch salopper von Sachen, nüchtern von Objekten oder abwertend von Zeug reden - stapeln sich bei uns allen zuhauf. Eine Greenpeace-Studie will herausgefunden haben, dass jeder Erwachsene in Deutschland fünfundneunzig Kleidungsstücke besitzt, Socken und Unterwäsche nicht mitgezählt. Jedes fünfte davon wird angeblich kaum getragen. Über rund zehntausend Dinge verfügt der Durchschnittseuropäer. Wer dieser Typus genau ist, lässt die Autorin Elke Brüns außen vor; dafür betont sie, dass sich sein Geschmack (Bilder an der Wand), seine Bedürfnisse (Smart-TV in der Küche) und seine Pläne (Hanteln neben dem Bett) in all dem Krempel widerspiegeln, mit dem er seine Wohnung ausstattet.
Vielen fällt es schwer, sich von Eigentum zu trennen. Jeder kennt das: Kaum fängt man an auszumisten, ist man mit Dingen konfrontiert, die plötzlich enorm wichtig, im Grunde identitätsstiftend erscheinen. Was seltsam ist, vor allem wenn man diesen Kram seit Jahren keines Blickes mehr gewürdigt hat. Braucht es da Hilfe? Womöglich von der Aufräumspezialistin Marie Kondo, deren Konmari-Methode sicherstellen soll, dass nur Gegenstände den Aussonderungsprozess überstehen, die man wirklich super findet? Nehmen wir das Wegwerfen von Büchern, für Brüns ein "ethisch heikler Akt". Kondo hingegen empfiehlt: "Nimm das Buch in die Hand und frage dich: Bereitet es dir Freude?" Lautet die Antwort nein - weg damit.
Das gelte übrigens auch für angefangene und dann zur Seite gelegte Schmöker, denn der Wille, sie vollständig zur Kenntnis zu nehmen, sei beim Kauf vorhanden gewesen, dann aber versiegt. Ihre "Aufgabe war es, zur Hälfte gelesen zu werden", so Kondo. Damit möchte sich Brüns nicht zufriedengeben, denn hier gehe es nicht bloß um das Verhältnis von Mensch und Buch, sondern um den komplizierteren Zusammenhang von Mensch, Buch und Text. Letzterer müsse vom Leser "beseelt", also mit Hilfe der Phantasie ausgestaltet werden. Von dort aus ist es für die Literaturwissenschaftlerin Brüns nur ein kleiner Schritt zur Rezeptionsästhetik (Wolfgang Iser! Hans Robert Jauß!) oder Friedrich Schlegel, der meint: "Buchstabe ist fixirter Geist. Lesen heißt, gebundnen Geist freimachen, also eine magische Handlung." Fazit Brüns: "Kondo feudelt hier vielleicht doch etwas zu oberflächlich durch, denn welcher Raum wird hier eigentlich wovon gereinigt?"
Die Autorin durchstreift in ihrem launig geschriebenen, assoziativen, dabei aber nicht willkürlich argumentierenden Essay ein riesiges Terrain. Aus der Ethnologie bezieht sie ebenso Impulse wie aus Literatur, Psychologie und Kunstgeschichte. Sie fragt, wieso wir dazu neigen, Dinge zu beleben, warum es vielen so schwerfällt, die beim Ausräumen der elterlichen Wohnung gepackten Kartons jemals wieder zu öffnen, weshalb es sinnvoll anmutet, zu behaupten, erst Dinge würden uns als Menschen hervorbringen, inwiefern kleine Kinder ein Übergangsobjekt benötigen (Schnuller, Spielzeug), das eine Brücke zwischen Ich und Welt herstellt und die Mutter vertritt, wenn sie abwesend ist. Die bei all dem mitgedachte These lautet, dass sich in unserem Umgang mit den Dingen "Prozesse der Verlebendigung und der Verabschiedung" vollziehen, in denen sich unser "Leben als permanenter, kaum reflektierter Austausch mit dem Tod spiegelt".
Eine Erbschaft zeuge genauso davon wie ein ausgeprägter Hang zum Sammeln, ganz gleich, ob privat oder in Kirchen und Museen, wo unveräußerliche Dinge die Ewigkeit gleichsam in Szene setzen. Nicht zu vergessen der Müll. Im Jahr 2021 soll jeder Deutsche im Durchschnitt 620 Kilogramm Abfall produziert haben. Was genau Abfall ist, versteht sich allerdings nicht von selbst. Vermeintlicher Unrat kann schließlich auch einen ästhetischen Wert haben und in Kunstausstellungen landen. Und ob wir etwas ausmustern, weil wir es nicht mehr brauchen oder weil der Akt des Entsorgens so erbaulich ist - man wird es nicht immer eindeutig sagen können. KAI SPANKE
Elke Brüns: "Dinge". Warum wir sie brauchen und warum wir uns von ihnen trennen müssen.
Reclam Verlag, Ditzingen 2024. 78 S., br.
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