Besprechung vom 05.10.2020
Blut an den Händen
Éric Plamondon kennt das zerrissene Kanada
Als Taqawan bezeichnen die Mi'gmaq den Lachs, der zum ersten Mal in den Fluss seiner Geburt zurückkehrt. In diesem Fall ist es der Restigouche, der an der Ostküste Kanadas in die Chaleur-Bucht mündet und so die Provinzen Québec und New Brunswick voneinander trennt. Hier, wo schon Tausende Jahre vor Christus erste Menschen vom Lachsfang lebten, beschlagnahmte die Polizei am 11. Juni 1981 in einer brutalen Razzia die Fischernetze der Mi'gmaq. Die Bilder der Verletzten und Toten gingen, auch dank des Dokumentarfilms "Incident at Restigouche" von Alanis Obomsawin, um die Welt.
Éric Plamondon nimmt den Vorfall in "Taqawan" zum Ausgangspunkt eines abenteuerlichen Roman noir. Am Tag nach dem Einsatz findet der Ranger Yves Leclerc ein Mädchen in den Wäldern, eine junge Indigene, verstört, mehrfach vergewaltigt. Die Suche nach den Tätern führt bis ins Québecer Beamtentum, mitten hinein in eine Gesellschaft, die ihr Selbstverständnis auf strukturellen Rassismus gründet. "In Québec haben wir alle Indianerblut", sagt irgendwann jemand. "Entweder in den Adern oder an den Händen."
Bevor der Krimiplot in "Taqawan" jedoch an Fahrt gewinnt, erlaubt sich Plamondon diverse Abzweige. Seine Kapitel sind dicht und bündig, manche wie eigene Kurzgeschichten, die etwa die Legenden und den Alltag der First Nations, der indigenen Völker, zur Zeit beschreiben, bevor die Europäer im Sankt-Lorenz-Strom ankerten. Andere lesen sich wie kurze Essays, die einen Einblick in Kanadas verworrene Kolonialgeschichte gewähren, von Kriegen und Stellvertreterkriegen erzählen, vom bis heute andauernden politischen Gezerre zwischen der Bundesregierung und den einzelnen Provinzen, von den Unabhängigkeitsbestrebungen der französischsprachigen Minderheit in Québec.
Zwischendurch wird es experimentell: Ein Kapitel widmet Plamondon dem ersten Fernsehauftritt des späteren kanadischen Nationalheiligtums Céline Dion. Das nächste bietet ein Rezept für Austernsuppe, ein anderes den Werbetext für einen luxuriösen Campingwagen. Den Kontrast zu diesem literarischen Puzzlespiel bilden erstaunlich viele Leichen und drastische Action. Der Autor verankert den Fall der fünfzehnjährigen Océane dabei ganz spezifisch im Kontext der Québecer Politik und Kulturgeschichte.
Im Protagonisten Leclerc, einem wortkargen Eigenbrötler, der mit seiner Hündin in einer feudalen Waldhütte lebt, spiegelt sich die Zerrissenheit der ganzen Provinz, die von der Bundesregierung Rechte fordert, die sie selbst den First Nations nicht gewährt. Dass Leclerc als Ranger zur Razzia bei den indigenen Fischern einbestellt wird, quittiert er, indem er seine Uniform zurückgibt, und seine moralischen Grundsätze verteidigt er zur Not auch mit Fäusten und Waffen. Aber zugleich wählt er die Separatisten, die ihren Zwist mit Premierminister Pierre Trudeau auf dem Rücken der Mi'gmaq austragen.
Überhaupt schmeichelt Plamondon, 1969 in Québec geboren, seinen Landsleuten nicht. Er selbst lebt seit den neunziger Jahren in Frankreich - und die wenigen weißen Québecer, die in "Taqawan" als Nebenfiguren auftauchen, sind barbarische Polizisten oder rassistische Hinterwäldler. Angesichts der mangelnden Sympathieträger verschieben sich so die Gefühle hin zur widerspenstigen Schönheit des Landstriches selbst. "Gespeg" lautet das Mi'gmaq-Wort für "Ende der Welt", das der Gaspésie-Halbinsel ihren Namen gab; das Land als einzige Konstante in einer Geschichte ewig währender Gnadenlosigkeit. Plamondon lässt es auf eine Weise lebendig werden, die an Nature Writing erinnert. So effizient und aufgeräumt er die Grausamkeiten schildert, die seine Figuren einander antun, so poetisch beschreibt er die Nieren des Lachses, die sich an Salz- und Süßwasser anpassen können.
Er spielt mit Anatomie, Etymologie und mit Anekdoten aus frühen Siedlerzeiten, die die Kälte zwischen den Bewohnern dieses Landes nicht aufzutauen vermögen. Seine besondere Faszination gilt den traditionellen Jagdmethoden der Mi'gmaq: Ein riesiger Ahorn wird zum Totschläger in einer Bärenfalle. Ein Elch wird erlegt, indem man ihn in ein locker gespanntes Seil hineinrennen und einen Baumstamm am Hals hinter sich herziehen lässt, bis sich das Tier buchstäblich totläuft. Auch Plamondons Erzähl-Schlinge zieht sich zu, bis er seine Figuren ausnimmt und in den Fluss zu den Lachsen wirft.
KATRIN DOERKSEN
Éric Plamondon: "Taqawan". Roman.
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos Verlag, Basel 2020.
208 S., br.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Taqawan" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.