GELESEN: Kästner Erich Notabene 45
Erschienen 1961
189 Seiten
Eine liebe Lesefreundin hat mich auf dieses Buch aufmerksam gemacht - und siehe da, es stand schon seit Jahrzehnten im Regal. Meine Mutter bekam es 1963 geschenkt, und aus diesem Jahr ist auch die Druckausgabe.
In diesem Buch hat Erich Kästner (damals 46 Jahre alt) seine Tagebucheintragungen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges be -und verarbeitet, die er im Vorfeld stichpunktartig in Stenographie niedergeschrieben hatte.
Kästner, gebürtiger Dresdner (* 1899 in Dresden 29.07.1974 in München) lebte damals in Berlin und erlebte die Bombenangriffe, beobachtete die Fliegerstaffeln, von denen er genau wusste, wohin sie sie flogen, und wenn seine Geburtsstadt Dresden im Fokus lag, sorgte er sich um die dort lebenden Eltern Ida (74) und Emil.
Am Krieg musste er nicht teilnehmen, er war ausgemustert, und auch beim Aufruf zum Volkssturm entschwand er sang- und klanglos auf kuriose Weise. Man suchte Männer, die ein oder sogar zwei Telefone besaßen oder ein Fahrrad. Stellte diese Leute in Gruppen auf. Am Ende blieben vier Herren übrig, die weder das eine noch das andere besaßen. Nach ihnen schaute niemand mehr, und so verließen sie unbemerkt die Örtlichkeit.
Da Kästner bekanntlich mit seinen Werken verboten war, lebte er immer in einer gewissen Sorge. Am 09. März 1945 wurde er gewarnt.
Die SS plane, bevor die Russen Einzug halten, eine Abschiedsfeier, eine Nacht der langen Messer , wie er schreibt, und auch sein Name stünde auf der Liste. Offiziell durfte er Berlin nicht verlassen.
Auf dem UFA-Gelände begegnete Lotte (Luiselotte Enderle, UFA-Dramaturgin und Lebensgefährtin von Erich Kästner) Eberhard, einem bei der UFA beschäftigten Mann, der sie fragte, warum sie noch in Berlin sei und sie ihm antwortete, dass Erich nicht gehen dürfe. Eberhard leitete dann alles für die Flucht in die Wege So begab es sich, dass er mit den entsprechenden Papieren, die man besorgte, ab sofort zu einer Film-Crew gehörte, die angeblich einen wichtigen Film in Mayrhofen (Tirol) zu drehen hatte.
Dort ließ es sich leben, auch wenn er und das ganze Team aus Babelsberg in diesem kleinen Bergdorf nicht wirklich willkommen waren, so sicherte es das Überleben.
All dies schildert Kästner mit seinem ganz besonderen Schreibstil, der trotz aller Tragik immer wieder zum Schmunzeln und auch zum Nachdenken bewegt.
Hier einige Sätze:
Ich studiere nicht nur, wie eine Branche, die mir fernliegt, eine Diktatur nach besten Kräften zum Narren hält, sondern ich esse mich dabei satt. Ich bin ein Mitesser.
Wie man Freunde hat, die einen nicht mehr kennen wollen, hat man, zum Ausgleich, andere, die man selbst nicht kennt.
Aus Mayrhofen erfahren wir einiges von der Bevölkerung. Kästner, ein ausgezeichneter Beobachter, schildert anschaulich unter anderem die Vorgänge der Familie Steiner, als sie gerade erfahren, dass auch ihr zweiter Sohn gefallen ist. Nach einem Tag voll schrecklicher Trauer und lautem Geschrei sagt die Mutter am nächsten Tag: Nun sind wir wieder ganz allein. Und der Vater sagt: Jetzt hilft mir keiner mehr bei der Arbeit auf der Alm. Diese Sätze sprechen für sich.
Auch das tatsächliche Kriegsende, welches für den zu dieser Zeit noch immer in Mayrhofen lebenden oder leben müssenden Kästner zuerst nur aus Spekulationen bestand, war nicht direkt eine Feier . Zu viel war kaputt. Ihm blieb nur abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln und weiterhin den Leuten auf die Münder und auf die Hände zu schauen. Genau dies verstand er, und zwar in einer ganz besonderen Weise, wie man in diesen Tagebuchaufzeichnungen lesen kann. Scheinheiligkeit, aber auch Güte und Freundschaft nahm Kästner besonders wahr. Er vermag in jedem Satz punktgenau wiederzugeben, was seinerzeit nach seinen Wahrnehmungen los war. Und es war viel los. Mörder flüchteten, brachten sich um, wurden plötzlich zu Gutmenschen, tauchten unter und auch wieder auf, und die Welt um ihn herum lag in Trümmern. Uniformen wollte man loswerden, und die Bauern räumten ihre Kleiderschränke aus. Auch Trachtenhüte waren sehr beliebt. Manch einer verabschiedete sich ganz schnell von seinem kleinen Oberlippenbärtchen.
Julius Streicher hat man bei Berchtesgaden eingefangen, Himmler hat sich, in englischer Haft, mit Zyankali vergiftet. Als man ihn festnahm, hatte er sich den Schnurrbart abrasiert und trug über dem Auge eine schwarze Klappe. Robert Ley hatte sich einen Bart wachsen lassen. Es geht zu wie im Maskenverleih-Institut oder wie in Gangsterfilmen. Der Würdelosigkeit sind keine Grenzen gesetzt. Das Gesicht der Herrenrasse mit auswechselbarem Schnurrbart.
(Seite 127)
Das Büchlein endet im August 1945 mit einer Fahrt nach Schliersee, wo sich Kästner und Lore noch einige Zeit aufhielten.
Ein Postskriptum aus 1960 gibt noch einen kurzen Überblick über die letzten Tage.
Man hätte noch eine ganze Weile mit diesen gescheiten Zeilen verbringen können.
Notate bene.