Besprechung vom 31.10.2024
Der Engel der Musik heißt hier Luzifer
Eine junge Sängerin, ihr Liebhaber und ein besitzergreifendes Musikgenie: was für ein Stoff! Gaston Leroux' Roman "Das Phantom der Oper" liegt nun in einer Neuübersetzung vor.
Lampenfieber kann sich an alles Mögliche knüpfen, allem voran an die Angst, den gelernten Text zu vergessen oder beim Singen die Töne nicht zu treffen. Was allerdings der Sängerin Carlotta widerfährt, der Diva der Pariser Oper, war beim besten Willen nicht vorherzusehen: Als sie auf der Bühne den Mund öffnet, kommen keine Töne aus ihrer Kehle, sondern Kröten - buchstäblich.
Und dennoch hätte man ahnen können, dass irgendetwas passieren würde. Denn Carlotta trat gegen den ausdrücklichen Willen des geheimen Herrschers dieser Oper auf. Das Wesen, das sich irgendwann in dem riesigen Gebäude eingenistet hat wie ein Parasit, stellt klare Forderungen auf und ist gewohnt, sie erfüllt zu sehen - Forderungen wie die nach einer immer für ihn frei zu haltenden bestimmten Loge etwa oder eine jährlich zu zahlende Summe, die das Einkommen der meisten an dieser Oper Beschäftigten weit übersteigt. Werden diese Forderungen nicht erfüllt, dann stürzt das Wesen, das "Phantom" genannt wird und sich nur selten blicken lässt, das Unternehmen ins Chaos. Etwa, indem es eine unschuldige Frau, die eine andere, dem Phantom hörige Angestellte ersetzen soll, durch einen herabstürzenden Kronleuchter ermordet. Oder indem es der Sängerin Carlotta das Krötenunglück beschert. Dass keiner weiß, wie es das hinbekommen hat, macht die Sache nur noch unheimlicher.
Es ist ein Terrorregime, das jenes Phantom errichtet hat und das auch die beiden anfangs recht unbekümmerten neuen Direktoren der Oper anerkennen müssen. Allerdings wird die Sache dadurch dynamisch, dass sich der Diktator nun auch in künstlerische Fragen einmischt. Anstelle von Carlotta, so hatte er gefordert, solle Christine Daaé singen, sein erklärtes Mündel. Der jungen Schwedin gegenüber zeigt er allerdings ein anderes Gesicht: Er tritt als Gesangslehrer auf, der ihr tatsächlich einen ganz neuen Zugang zu ihrer Stimme verschafft: "Das Konservatorium hatte sie als eine leblose singende Maschine durchlebt. Und plötzlich war sie erwacht, wie durch den Hauch eines göttlichen Eingreifens." Allerdings verlangt das Phantom, das seine Gestalt konsequent verbirgt, dafür auch etwas von Christine, die er glauben lässt, er sei der "Engel der Musik", dessen Besuch ihr verstorbener Vater ihr einst angekündigt hatte. Sollte Christine je heiraten, werde er, der Engel, davonschweben und sie alleinlassen. Daran will sie sich halten - auch wenn sie sich längst in ihren Jugendfreund, den Vicomte Raoul, verliebt hat und er sich in sie.
Kolportage? Durchaus, nur dass die melodramatische Struktur von Gaston Leroux' 1910 erschienenem Roman "Das Phantom der Oper" seinem Gegenstand entspricht. Denn die Pariser Oper ist nicht nur der wesentliche Schauplatz des Romans; das Gebäude avanciert mit seinen vielen Gängen und Zimmern, Treppen und geheimen Takten bis hin zum unterirdischen See rasch auch zum eigentlichen Akteur, der mit der jeweiligen Gemütsverfassung der Protagonisten korrespondiert: Das musikbesessene Phantom ist mit jedem Winkel vertraut und beherrscht die übrigen schon allein dadurch, übrigens sehr zum Kummer Christines und zum Ärger ihres allzu leicht aufbrausenden Liebhabers - je tiefer die beiden in den Opernbau gelangen, je muffiger die Kellerluft wird, umso prekärer wird ihre Situation. Und umgekehrt kommt es zu einer der schönsten Szenen des Romans, als es Christine und Raoul gelingt, nach ganz oben vorzudringen, aufs Dach der Oper. Gaston Leroux' Roman, das Hauptwerk eines journalistischen Vielschreibers, erschien ursprünglich in Fortsetzungen in der Tageszeitung "Le Gaulois", so wie zahlreiche große Romane des neunzehnten Jahrhunderts. Und wie diese ist "Das Phantom der Oper" in einzelnen Lieferungen strukturiert, Cliffhanger inklusive, die das Publikum bis zur nächsten Folge bei der Stange halten sollen. Auch sprachlich ist der Text nicht ohne Brüche, atemlos bisweilen, was die Neuübersetzung von Rainer Moritz, die nun bei Reclam erschienen ist, sehr schön abbildet. Sie verweist auf eine Struktur, die in den populären Adaptionen auf der Leinwand (seit 1916) oder der Bühne wie Lloyd-Webbers 1986 uraufgeführte Version unterzugehen drohen - der Text, den der Leser in Händen hält, setzt sich laut einer Vorrede aus den Berichten einiger Augenzeugen zusammen, die wiederum der Herausgeber um eigene Recherchen zu dem lange zurückliegenden Geschehen ergänzt hat.
Was ist das für ein Erzähler? Er steht dem Phantom der Oper, dessen Identität sich im Lauf des Romans vor Christine enthüllt - und von ihr, ein fundamentaler Verrat an ihrem Gesangslehrer, auch dessen glücklicherem Nebenbuhler Raoul offenbart wird -, als zweites Phantom gegenüber. Und während Erik, so der eigentliche Name des Operntyrannen, seine Umgebung dadurch manipuliert, dass er manches vertuscht, anderes erlauscht und im Verborgenen benutzt, wobei seine eigenen Konturen trotzdem zunehmend sichtbar werden, bringt der Erzähler des Romans die Dinge ans Licht, montiert sein Material aber nach eigenem Ermessen und gibt Szenen wie ein Augenzeuge wieder, die er gar nicht miterlebt haben kann. Sein Anspruch auf Deutungshoheit des Geschehens steht der des Phantoms gegenüber. Am Ende wird er buchstäblich am Gerippe seines Widersachers stehen, wie ein Jäger vor dem erlegten Wild.
Nun ist Leroux kein Wilkie Collins, die Virtuosität, mit der dieser die unterschiedlichsten Perspektiven und Textformen nebeneinanderstellt, um seine großangelegten Romane wie "Die Frau in Weiß" oder "Der Monddiamant" zugleich verdeckend und enthüllend zu erzählen, steht seinem französischen Nachfolger nicht zu Gebote. Dafür hat Leroux einen ausgezeichneten Blick für Orte und dafür, wie sie sich in den Dienst einer literarischen Erzählung stellen lassen. Das zeigt sich vor allem bei der Opéra Garnier, aber auch in der bretonischen Provinz, wo sich Raoul und Christine dank einiger Zufälle schon als Kinder kennenlernten. Die Prägung, die beide dort erhalten, ist die Aufgeschlossenheit für Geschichten, die beiderseits der Schwelle zwischen Leben und Tod spielen - in den folkloristischen Erzählungen der Bretagne, denen die Kinder eifrig lauschen, ist diese Grenze besonders durchlässig. Hätte Christine sonst ernsthaft geglaubt, ein ominöser Engel der Musik käme sie aus dem Jenseits besuchen, um sie zur großen Sängerin zu machen? Hätte sie hinter dem Wesen, das diese Rolle für sich beansprucht, nicht schon früher den gefallenen Engel, den Luzifer erkannt?
Raoul jedenfalls, verliebt, unglücklich, aufbrausend und einfältig, ist ihr in all dem keine große Hilfe - Christine wird ihre Freude an ihm als Ehemann haben. Dass sie sich durchaus schwertut, sich zwischen dem hübschen Langweiler und dem hässlichen Musikgenie zu entscheiden, mag auch damit zusammenhängen. Ihre Geschichte aber liest man mit Gewinn. Und wird verwinkelte Riesengebäude wie die Pariser Oper danach mit anderen Augen sehen. TILMAN SPRECKELSEN
Gaston Leroux: "Das Phantom der Oper". Roman.
Aus dem Französischen und mit Nachwort von Rainer Moritz. Bilder von Michèle Ganser. Reclam Verlag, Ditzingen 2024. 432 S., geb.
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