Wo vielleicht das Leben wartetistein Roadmovie der besonderen Art. Angesiedelt in der Sowjetunion im Jahr 1923 begleitet er den ehemaligen Soldaten Dejew, die Kinderkommissarin Belaja, den Felscher Bug sowie 500 verwaiste Kinder durch das halbe Land. Das Ziel dieser ungewöhnlichen Truppe: Samarkand in Turkestan. Hier soll es noch das geben, was die Bevölkerung in der restlichen Sowjetunion händeringend sucht: Essen. Denn im Wolgagebiet, von wo aus die Truppe mit einem aus bunt zusammengewürfelten Waggons Zug startet, herrscht wie in vielen anderen Teilen eine große Hungersnot. Dejew wird daher beauftragt, Kinder aus einem Waisenheim in Kasan zu evakuieren und sie vor dem sicheren Tod zu bewahren. Doch nicht nur Nahrungsmittel fehlen, sondern auch alles andere, was man für so eine weite Reise benötigt: Kleidung, Medikamente, Hygieneartikel, Heizmaterial etc. Doch Dejew gibt nicht auf: Er will die 500 Kinder - ach am liebsten alle, denen er während der Fahrt begegnet - retten. Und mit viel Glück, Einfallsreichtum und dank dem letzten Fünkchen Menschlichkeit, das noch in der Bevölkerung des bürgerkriegsgeplagten Landes existiert, wird er dies auch schaffen!Zugegeben: Der letzte Satz der kurzen Inhaltsangabe stellt streng genommen einen Spoiler da, verrät er doch, dass am Ende dieses knapp 600 Seiten zählenden Roman die erzählte Geschichte (ihren widrigen Umständen entsprechend) gut ausgeht. Doch damit wird die Lektüre vonWo vielleicht das Leben wartet keinesfalls überflüssig, handelt es sich doch umeinen Roman, der - Roadmovie hin oder her - nicht mit Spannung punktet, sondern mit seiner Atmosphäre.Es sinddieZeichnungen der Protagonisten- der herzensgute, aber naive Dejew; die strenge, aber Sicherheit gebende Belaja; der gutmütige, aber realistische und erfahrende Bug - sowiedie Beschreibungen aus dem Mikrokosmos Zug, in dem über 500 Menschen aus verschiedenen Regionen und mit unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Hintergründen aufeinandertreffen, die den Roman lesenswert machen und die eigentliche Story bilden. Wie können so viele Menschen auf engstem Raum zusammenleben? Welche zwischenmenschlichen Konflikte bilden sich? Welche Strukturen organisieren den Tag, der hauptsächlich daraus besteht durch die karge und weite Landschaft eines Riesenreichs zu fahren?Tatsächlich verblassen neben diesen zentralen Fragen die eigentlichen Konflikte, die im Buch immer wieder auftreten, zunehmend, zumal nach gut einem Viertel deutlich wird, dass ihre Lösung immer nach einem bestimmten Muster abläuft: Ein Problem tritt auf, Dejew fühlt sich als Zugführer dazu berufen, es im Alleingang zu lösen, er macht sich auf die Suche nach Nahrung, Kleidung, Seife, Brennholz, Menschen etc. und stößt nach ein paar Umwegen immer auf Personen die ihm großmütig und uneigennützig helfen, auch wenn sie selber nichts mehr haben. Machtmissbrauch und Gewalt sind diesen Menschen - zumindest in der Anwesenheit Dejews - unbekannt und so kommen der Zug und seine Insassen immer glimpflich davon. Diese Schilderungen sind natürlich hochgradig unrealistisch, stören aber weniger als man meint, dass sie sich in die Gesamtdarstellung einfügen und eine wohltuende Abwechslung zu den Beschreibungen halbverhungerter und verwahrloster Menschen bilden.Auch dafür braucht es manchmal die Fiktion: Um den Glauben zu bewahren, dass die Menschen auch in Zeiten des Krieges einen guten Kern bewahren!Dennoch ist Atmosphäre nicht alles und bei einem Wälzer von 600 Seiten hätte ein wenig Spannung gut getan.Stattdessen ist die Handlung insgesamt zu spärlich, der Stil zu beschreibendund dabei bisweilen hölzern.So beginnt man sich doch auf den letzten Seiten zu langweilen, zumal man sicher ist, dassWo vielleicht das Leben wartetmit einem Happy End aufwarten wird. Die Lektüre wäre vielleicht anregender gewesen, hätte sie viele historische Fakten und Hintergrundwissen enthalten. Natürlich werden die Umstände in der Sowjetunion in den 1920er Jahren geschildert und man lernt durchaus etwas dazu;der Roman taugt insgesamt aber doch mehr zur Unterhaltung und Zerstreuung, als zur Belehrung.Insgesamt istWo vielleicht das Leben wartet ein nett zu lesender Roman mit durchaus ansprechendem Inhalt, dessen Figuren einen ans Herz wachsen und denen man alles Glück der Welt wünscht.Eine wohltuende Geschichte über eine schreckliche Zeit, die einen nicht kalt lässt, sich insgesamt aber zu sehr zieht. Ein Buch für Leser:innen mit Ausdauer, die bereit sind, sich in einer Story zu verlieren - denn hier ist wirklich der Weg allein das Ziel.