Besprechung vom 18.12.2023
Der Bauer, das unbekannte Wesen
Die deutsche Landwirtschaft besser verstehen
Kennen wir eigentlich unsere Bauern? Warum stehen sie in der Kritik? Und was passiert zwischen Hof und Ladentheke? Kaum jemand weiß es heute noch. Nur noch wenige Bürger kennen einen Landwirt persönlich. Daran sind auch die Landwirte schuld. Sie hätten es versäumt, etwas gegen die Entfremdung zu tun, sagt Hermann Onko Aeikens. "Kein Wunder, dass der Realitätsschock besonders groß ist, wenn die Bürger erfahren, dass 5000 oder gar 50.000 Schweine in einem Stallkomplex stehen", schreibt er. Das mag absurd klingen, denn landwirtschaftliche Produkte sind die Grundlage unserer Existenz. Lebensmittel sind überall in hoher Qualität verfügbar. Verbraucher freuen sich über volle Regale, greifen bei Sonderangeboten gerne zu. "Während unser tägliches Brot in Mitteleuropa sicher ist, sind die Leidtragenden der globalen Veränderungen die ärmsten Länder", schreibt Aeikens. Die Landwirtschaft ist systemrelevant - auch wenn das in volkswirtschaftlichen Vergleichen selten so rüberkommt.
Wie in kaum einem anderen Wirtschaftszweig gibt es in der Landwirtschaft Zielkonflikte. In elf kurzen, übersichtlichen Kapiteln greift Hermann Onko Aeikens die Zusammenhänge, Widersprüche und Auswüchse der Agrarwirtschaft auf und erklärt sie für den Laien. Dabei ist ihm die Materie alles andere als fremd. Der 1951 geborene Agrarwissenschaftler war Staatssekretär und später Minister im Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt in Magdeburg, Sachsen-Anhalt, (1990 bis 2016) und gegen Ende seiner Laufbahn Staatssekretär im Bundeslandwirtschaftsministerium unter den Ministern Schmidt (CSU) und Klöckner (CDU).
Aeikens hält Balance, lenkt den Blick sowohl auf den Bauern vor Ort als auch auf die große Weltbühne des internationalen Agrarhandels, stellt die Bauern dabei weder als Verlierer noch als Gewinner dar. In groben Zügen zeichnet er den Wandel der deutschen Landwirtschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach. Er geht auf wesentliche Errungenschaften des heutigen Wohlstands ein, wie die Pflanzenzüchtung oder die Effizienz in der Tierhaltung. Dabei scheut er sich nicht, den Finger in die Wunde zu legen. So fragt er nach den Grenzen dieser Entwicklung: Ist die Höchstleistung von Milchkühen heute aus Tierschutzsicht noch vertretbar, wenn sie nur wenige Jahre alt werden? Nur einer von vielen Zielkonflikten, die nicht einfach zu lösen sind.
Das zu versuchen ist Aufgabe der Politik. Der Leser erfährt, wie die europäische Agrarpolitik entstanden ist und was es beispielsweise mit den oft kritisierten staatlichen Subventionen auf sich hat. Fast alle Staaten der Welt unterstützen den Agrarsektor; Subventionen haben international eine lange Geschichte. Begründet werden die Milliarden aus Brüssel unter anderem als Ausgleich für die hohen Standards, die Landwirte in der EU erfüllen müssen. Für wirklich reformierbar hält Aeikens das System dieser Zahlungen nicht. Viele Länder hielten daran fest.
Auf der Brüsseler Bühne - weit weg von der Realität auf den Höfen - werden die wichtigen Entscheidungen getroffen. Wenn der Autor über den Politikbetrieb plaudert, wird das sonst eher nüchtern und faktenorientierte Werk lebendig. Etwa, als Aeikens über den ritualisierten Ablauf von EU-Ratssitzungen, das "Verlesen von zum Teil floskelhaften Sprechzetteln" oder vertraulichen "Kamingesprächen" der Agrarminister spricht, die die ganze Nacht dauerten.
Auch über die Rolle der Interessengruppen schreibt Aeikens ausgewogen. Neben der Macht der NGOs und Umweltverbände sieht er die Rolle des Deutschen Bauernverbands mitunter kritisch, beschreibt sie als "seit jeher erfolgreich arbeitende Lobbyisten". Durch "unerschütterlichen Glauben an die eigene Stärke" habe der Verband zu sehr auf Konfrontation mit der Politik gesetzt und verstehe sich immer noch als Schicksalsgemeinschaft. Umweltthemen seien viel zu spät aufgegriffen worden. Ohnehin lägen die größten Differenzen auf politischer Ebene oft zwischen Umwelt- und Landwirtschaftsministerium. Der Autor schlägt vor, die Zuständigkeiten für Landwirtschaft und Umwelt in einem Ministerium zu bündeln. Das würde eine Politik aus einem Guss ermöglichen.
Aeikens fordert eine stärker wissenschaftsbasierte Agrarpolitik und einen Abbau von Bürokratie. Obwohl sich die Verbraucher von den Landwirten entfremden, spricht er von einem "wachsenden Interesse an der Landwirtschaft". Doch wie mehr Tierwohl in den Ställen finanziert werden soll, darauf hat auch er keine abschließende Antwort, auch wenn er sich für ordnungsrechtliche Maßnahmen ausspricht. Zugleich sieht er eine steigende Bereitschaft der Verbraucher, für Tierwohl mehr zu bezahlen, und nennt als Beispiel Bio. Das ist sehr optimistisch. Hier sind die Marktanteile gerade in Zeiten knappen Geldes verschwindend gering. Die starke Komprimierung der Themen führt an einigen Stellen im Buch dazu, dass Themen nicht in ihrer Vollständigkeit dargestellt werden. Das ist auch bei Aussagen zur vermeintlich positiven Klima- oder Gesundheitsbilanz von Ökoprodukten oder Laborfleisch zu erkennen. Insgesamt bemüht sich der Autor aber um eine ausgewogene Darstellung. Es gelingt ihm, ein hoch emotionales Thema wunderbar unaufgeregt zu betrachten. Insgesamt eignet sich das Buch als Lektüre für alle, die an kompaktem Hintergrundwissen interessiert sind. Anne Kokenbrink
Hermann Onko Aeikens: Unsere Landwirtschaft besser verstehen - Was wir alle wissen sollten, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, 276 Seiten
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.