Besprechung vom 04.11.2024
Voller Blut und Mut
Die Geschichte der Vereinigten Staaten, gebündelt in einem Gemischtwarenladen: James McBride schreibt mit "Himmel und Erde" einen großen amerikanischen Roman, den er in einem Krimi verpackt.
Auf dem Chicken Hill in Pottstown, Pennsylvania müssen im Jahr 1972 Bauarbeiten unterbrochen werden, denn dort, wo neue Reihenhäuser entstehen sollen, kommt in einem alten Brunnenschacht ein gut erhaltenes Skelett zum Vorschein. Daneben eine Mesusa, eine Schriftkapsel, wie sie in traditionellen jüdischen Haushalten an den Türpfosten angebracht wird. Also verdächtigen die Pennsylvania State Troopers zuerst den steinalten Malachi, den letzten Juden, der noch auf dem Hügel wohnt.
"Himmel und Erde" passt geradezu unheimlich in diese Zeit, in der Antisemitismus und das gegeneinander Ausspielen von Minderheiten Oberwasser haben; und als Sohn eines schwarzen Pastors und einer polnisch-jüdischen Einwanderin hat James McBride dazu einiges zu sagen. Um von der Herkunft des Skeletts im Brunnen zu erzählen, wählt er gerade deswegen nicht den Weg eines geradlinigen Whodunits. Vielmehr, lobte die US-Kritik, sei "Himmel und Erde" ein Krimi, verpackt in einen großen amerikanischen Roman.
Zunächst springt die Handlung zurück in die Zwanziger- und Dreißigerjahre, in die Zeit, als auf dem Chicken Hill ein jüdisches Ehepaar namens Ludlow lebt. Moshe öffnet sein Theater auch für ein schwarzes Publikum, und die Mischung aus Klezmer und Jazz lässt seine Kasse klingeln. Chona hingegen ist die gute Seele der Nachbarschaft. Der gesamte Chicken Hill trifft sich in ihrem Geschäft, dem im englischsprachigen Original titelgebenden Heaven and Earth Grocery Store, weil sie ihren Kunden großzügig Kredit gewährt und meist vergisst, ihn zurückzufordern. Die Vereinigten Staaten als Gemischtwarenladen - entfernt erinnert das Bild an Forrest Gumps Metapher vom Leben als Pralinenschachtel. Auch in "Himmel und Erde" weiß man nie, was man bekommt: Um das Epizentrum der Ludlows kreisend, führt McBride permanent neue Figuren ein, erzählt in launigem Plauderton von ihrem Werdegang, von der Veränderung des Landstrichs, der Anfang des 20. Jahrhunderts eine rasante Entwicklung vom amerikanischen Idyll hin zur von Fabrikschloten gesäumten und verräucherten Industrielandschaft hinlegt.
Pottstown wird zur Einwandererstadt, Italiener, Iren und osteuropäische Juden arbeiten in den Fabriken und immer häufiger auch Schwarze, die früher höchstens in Hausmädchen- und Chauffeursuniformen in der Innenstadt zu sehen waren. Ein Dorn im Auge all jener, die einmal jährlich in der Parade des Ku-Klux-Klans mitmarschieren. Der eigentliche Krimiplot nimmt erst spät an Fahrt auf, als Chona und Moshe beschließen, einen schwarzen Waisenjungen vor dem Staat zu verstecken. Der zwölfjährige Dodo ist infolge eines Unfalls gehörlos, was in den Augen der Beamten ausreicht, um ihn ins Pennhurst einzuliefern, das Staatliche Institut für "Geistesschwache" und Epileptiker.
Als Dodo irgendwann wirklich dort landet, muss die ganze Nachbarschaft zusammenarbeiten, um ihn wieder herauszuschmuggeln, und so wechseln im letzten Drittel des Romans noch einmal Tempo und Rhythmus hin zu einer meisterhaft alle Fäden verbindenden Parallelmontage, die auf der Klaviatur der Krimi-Subgenres die verschiedensten Register anspielt: Noir, historische Gangstergeschichte, Heist, Psychothriller, Parodie. Vom tatsächlich bis in die späten Achtzigerjahre betriebenen Pennhurst Institut bis hin zum Chicken Hill, dessen Spitzname sich abfällig auf die vielen Hühner haltenden Bewohner des Hügels bezog, verankert James McBride "Himmel und Erde" in der US-amerikanischen Geschichte. Der sich bei oberflächlicher Lektüre womöglich einstellende Eindruck, der Autor schaue nostalgisch in die Vergangenheit, täuscht: "Die amerikanische Geschichte soll nicht schön sein", lässt er seinen Erzähler konstatieren. "Sie ist schlicht und einfach. Sie ist stark und wahrhaftig. Voller Blut. Und Mut. Und Krieg."
Sein Blick ist unverstellt und von schwarzem Humor geprägt, zeigt Antisemitismus und Rassismus ebenso wie Vorurteile und Meinungsverschiedenheiten, die von außen üblicherweise als homogen wahrgenommene Gruppen untereinander spalten. Wenn überhaupt, dann gilt James McBrides Nostalgie der Idee, die Emma Lazarus 1883 in ihrem Sonett "The New Colossus" formulierte, im Roman mehrfach zitiert und im Sockel der Freiheitsstatue verewigt: "Gebt mir eure müden, eure armen, eure bedrängten Massen, die nach Freiheit schmachten." Der Widerspruch zwischen diesem Versprechen und dem, was daraus geworden ist, sorgt für den eigentlichen Nervenkitzel in "Himmel und Erde". Als wolle sich James McBride mit seinem Pessimismus nicht abfinden, setzt er ihm die weltverbessernde Macht von Gemeinschaft, von Humor und Lebensfreude entgegen. KATRIN DOERKSEN
James McBride: "Himmel und Erde". Roman.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. btb Verlag, München 2024. 464 S., br.
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