Besprechung vom 06.05.2024
Anhaltendes Todesröcheln
Alle wollen ein Stück vom blutigen Kuchen: Der britische Autor Joe Thomas beschließt mit "Brazilian Psycho" seine Tiefenbohrung im Moloch São Paulo.
Nicht nur New York, auch São Paulo ist eine Stadt, die niemals schläft. So schreibt es der britsche Schriftsteller Joe Thomas in seinem Thriller "Brazilian Psycho" und lässt den Gangster Big Ray gleich noch die Beobachtung hinterherschieben, diese Stadt werde "von ihrem eigenen Todesröcheln wachgehalten". Das Bild nimmt vorweg, was der Roman zeigen wird.
Big Ray ist aus Miami in seine Heimat zurückgekehrt in der Hoffnung auf das große Geschäft, denn politisch hat sich einiges in Brasilien geändert. Es ist Januar 2003, und die Brasilianer haben Lula da Silva zum Präsidenten gewählt, dessen Sozialpolitik subventionierten Wohnungsbau und staatliche Beihilfe für arme Familien verspricht. Nicht nur Big Ray hat große Pläne, diese staatlichen Maßnahmen in die eigene Tasche umzuleiten.
Joe Thomas zieht auf mehr als sechshundert Seiten einen Querschnitt durch die Bevölkerungsschichten der Metropole, zeichnet Lebensläufe nach, die sich zwangsläufig irgendwann überschneiden müssen und dabei auf unterschiedlichen Seiten des Gesetzes und der gesellschaftlichen Ordnung stehen.
Der Polizist Mario Leme etwa verbeißt sich in einen Mordfall. Der Leiter einer internationalen Schule ist in seiner Wohnung in einem Nobelviertel erschlagen worden. Obwohl man den Fall schnell abschließen will und sofort einen passenden Verdächtigen im Auge hat, lassen Leme einige Details nicht los. Er glaubt nicht, dass der richtige Täter gefasst wurde, trägt weiter Indizien zu diesem Fall zusammen und befindet sich Jahre später auf der Spur eines Serienmörders. Dazwischen schiebt sich die Liebe, denn Leme lernt eine Anwältin kennen, die sich der Hilfe der armen Bevölkerung verschrieben hat und mit einem Sozialbüro direkt am Rand der Favela, deren Bewohner diese "den Dschungel" nennen, selbständig macht. Die Anwältin wiederum kreuzt immer wieder den Weg eines Jungen, den die Drogenbosse des Viertels schon früh mit Kurierdiensten beauftragen und der eigene Ideen hat, wie man die Sozialleistungen des Staates zugunsten der Männer umleiten kann, die das Viertel eigentlich regieren.
Wie brutal die Stadt für ihre Bewohner sein kann, macht Thomas auch in seiner Sprache deutlich, etwa wenn er die Bewegungen des jungen Drogenkuriers beschreibt: "Rafa stößt sich ab, schlängelt sich zwischen Bergen von schwitzenden Müllsäcken hindurch, die Risse im Plastik sind wie eiternde Wunden." Das Bild von São Paulo, das so entsteht, ist widersprüchlich. Auf düsterste zwischenmenschliche Vorgänge knallt die Tropensonne und wirft harte, kurze Schatten, in denen sich niemand verstecken kann.
Zehn Jahre lang hat der 1977 im Londoner Stadtteil Hackney geborene Autor Joe Thomas in São Paulo gelebt und recherchiert. "Brazilian Psycho" ist nach "Paradise City", "Gringa" und "Playboy" der Abschluss seiner Thriller-Tetralogie über die brasilianische Mega-City und den Detektiv Mario Leme, der bereits im ersten Band ermittelte. So wie Leme sich immer weiter in die Verwicklungen der Stadtpolitik und die Abgründe der Eliten hineinarbeitet, hat sich auch Thomas tief in die Geschichte der Stadt vergraben und zum Teil wahre Begebenheiten ins Fiktionale übersetzt. Viele seiner Quellen legt er am Ende von "Brazilian Psycho" offen, gibt Hinweise, in welchen journalistischen Artikeln man weiterlesen kann, wenn die hier geschilderten Taten einen auch nach Ende der Lektüre nicht loslassen wollen.
Einige der Artikel finden sich auch im Roman wieder, eingeschoben als kursive Zwischenkapitel. Thomas spannt seine Erzählung über mehr als zwanzig Jahre und gleicht sie immer wieder mit der Realität ab. So berichten die Originalberichte von Misshandlungen linker Aktivisten durch die Polizei während der Proteste gegen Bolsonaro 2018, andere Dokumente erzählen von den Misskalkulationen der Wohnungsbaumaßnahmen der Regierung Lula de Silvas ("Beschwerden über die Lebensqualität der Bewohner - unzureichender Wohnraum - Viehhaltung sollte für den täglichen Lebensbedarf der Bewohner sorgen, führte aber zu Problemen mit anderen Mietern - die Durchsetzung des Tierverbots führte zum Entzug der Lebensgrundlage - es entwickelte sich ein Schwarzmarkt mit unerlaubten Verkäufen und der Untervermietung von Wohneinheiten"). Auch die emotionsheischenden Reden von Politikern, die sich die Anwältin Renata im Fernsehen anschaut, sind im originalen Wortlaut wiedergegeben.
Solche Einschübe sind nicht die einzige formale Spielerei, die sich der Autor erlaubt. Im letzten Band seiner Stadterkundung führt er verschiedene Erzählstile zusammen, die er in den Vorgängerbüchern sparsamer ausprobiert hatte. So wechseln nicht nur die Handlungsstränge immer wieder zwischen den zahlreichen Figuren, auch die Erzählperspektive variiert. Wenn die Handlung um den Detektiv Leme, die Anwältin Renata oder den Gangster Big Ray kreist, erzählt Thomas sie im neutralen Ton in der dritten Person. Dazwischen schleichen sich im Protokollstil gehaltene Ich-Passagen. Eine berichtet aus der Sicht der Hausangestellten des ermordeten Schulleiters, eine nimmt die Perspektive der Ehefrau eines hochrangigen Beamten ein und eine die eines jungen Mannes, der immer weiter in Eifersucht und Psychose abrutscht.
Es sind die emotional kaputtesten Figuren, denen man durch diese Technik noch näher kommt. Wen diese Figurenvielfalt abschrecken sollte - es gibt ein Register mit der Übersicht aller handelnden Personen. All diese stilistischen und formalen Varianten könnten bei einem weniger versierten Autor schnell ins Chaos abgleiten, doch Thomas gelingt es, die Erzählstränge mit sicherer Hand zusammenzuführen. Wie beim Teppichknüpfen kommen die Fäden, die er einbaut, mal schmaler, mal breiter, mal glänzender, mal dunkler daher - am Ende aber entsteht das Bild einer Stadt, das zugleich das Bild eines Landes und seiner politischen Kämpfe ist. MARIA WIESNER
Joe Thomas: "Brazilian Psycho". Thriller.
Aus dem Englischen von Alexander Wagner.
btb Verlag, München 2024.
640 S., br.,
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