Besprechung vom 02.10.2021
Der Überwältiger
Seit seinem Bestseller "Die Korrekturen" hat Jonathan Franzen dem Familienroman eine breite Schneise geschlagen. Durch "Crossroads", sein neuestes Werk, kann man ebenso locker hindurchspazieren. Aber es liegt auch viel totes Holz herum.
Von Paul Ingendaay
Jonathan Franzen hat in zwanzig Jahren eine erstaunliche Leistung vollbracht: Er hat nicht nur mit "Die Korrekturen", erschienen in den Tagen um 9/11, einen Weltbestseller geschrieben, sondern die Generationensaga zu manchmal grellen, öfter schwermütigen Tragikomödien der dysfunktionalen amerikanischen Kernfamilie umgerüstet. Dahinter verbirgt sich der Angriff eines einzigen Mannes auf Klischees der Romanästhetik - und die entschlossene Umwertung unseres Verständnisses von "ernster" und "unterhaltender" Literatur.
Denn Franzen, so hat er in mehreren Essays bekannt, gehörte selbst mal dazu: zur Fraktion derer, die das gut gemachte Kunstwerk auch gegen jene verteidigten, die zu ungebildet waren, es zu lesen, oder zu müde nach einem langen Tag im Büro. In entwaffnend ehrlichen Sätzen hat der 1959 geborene Autor bekannt, seine erste Ehe mit einer Schriftstellerin habe ihn in ein isoliertes Kunstjüngertum geführt und ihn beständig hadern lassen, wie eine durchs Fernsehen verblödete Gesellschaft ausgerechnet durch Romane erreicht werden könne.
Dann, nach zwei eigenen Romanen, die von der Kritik gewürdigt, aber kaum verkauft wurden, änderte Franzen seinen Zugriff: Mit den "Korrekturen" verband er realistisches Erzählen, psychologischen Scharfsinn, derbe Komik, Hohes, Tiefes und Mittleres. Seitdem bekommt man in seinen Romanen komplexe Arrangements, die erst in der Breite entzifferbar werden, viel Missgeschick, verunglückte Aufbrüche, verdorrte Hoffnungen, Sex (von gierig bis verhuscht), Drugs & Rock 'n' Roll sowie die Weltsicht eines gnädigen Erzählers, der seinen Lesern immer das Gefühl gibt, sie säßen in seinem Boot. Er glaube nicht daran, dass der heutige Roman etwas zu "lehren" habe, hat Franzen geschrieben, und seine Polemik gegen die Entwirklichung der Welt durch das Internet zeigt, wo er die dunklen Mächte der Moderne sieht; ganz sicher aber glaubt er daran, dass seine Bücher unsere Gegenwart ausdrücken können. Und seine Leser - lachend, grübelnd, heulend - haben daran teil.
Sein neuer Roman "Crossroads", jetzt erschienen bei Rowohlt (832 S., geb., 28,-Euro), ist als Auftakt einer Trilogie namens "Ein Schlüssel zu allen Mythologien" gedacht. Wir sollten uns also auf den Aufstieg zum Gipfel eines Lebenswerks einstellen, das die Zweitausend-Seiten-Marke reißt. Der Titel "Crossroads" bezieht sich sowohl auf einen alten Blues-Song als auch auf die Wegkreuzungen, an denen die Hauptfiguren schwerwiegende moralische Entscheidungen zu treffen haben. "Wegkreuzungen", das wäre als deutscher Titel natürlich nicht gegangen. Es hätte verdächtig nach Pfarrnachmittag aus den Siebzigern geklungen, denn "Crossroads", man sagt es nicht gern, ist wirklich nur der Name einer kirchlichen Jugendgruppe, deren Mitglieder einander vertrauensvoll den Kopf auf den Bauch legen, keine inneren Blockaden mehr haben wollen und so weiter: Achtsamkeit avant la lettre.
Das Personal ist klassischer Franzen. Der Pfarrer Russ Hildebrandt, der in seiner reformierten Kirche in einem Vorort von Chicago nur die zweite Geige spielt und sich mit seinem jüngeren Kollegen verkracht hat, versucht in spektakulärer Unbeholfenheit, eine junge Witwe seiner Gemeinde anzugraben, während seine verblühte Frau Marion ahnt, was da läuft, aber ihre eigenen Geheimnisse hat. Clem, der Älteste, ist längst auf der Uni, verlässt aber seine Freundin und will sich freiwillig zum Vietnam-Krieg melden, weil er als weißer Student keine Privilegien genießen will, die Schwarzen verwehrt bleiben. Vier Jahre unter ihm: die hübsche Becky, die in einer anrührenden Szene "Jesus findet", wie man in Amerika sagt, während der fünfzehnjährige Perry, den sein Intelligenzquotient von 160 in üble Probleme bringt, mit Drogen, Manien und Depressionen zu kämpfen hat. Genial ist Franzens Einfall, den Kleinsten, den neunjährigen Judson, nur als Schattenfigur durchs Buch zu schieben und ihm keine eigene Perspektive zu geben. Judson ist einer, der viel mitkriegt, aber wenig sagt.
Dass es hier und da Déjà-vu-Erlebnisse gibt, ist nicht weiter erstaunlich. Ein Provinz-Setting wie New Prospect, Illinois, mit der Pirsig Avenue und ein paar öden Straßen ist der ideale Leerraum, in dem die Figuren ihren eigenen Dämonen begegnen. Darin erinnern die Hildebrandts an die Lamberts in den "Korrekturen" (2001) und die Berglunds in "Freiheit" (2010). Auf die eine oder andere Weise liegen alle mit sich selbst, aber auch mit fast allen anderen im Clinch. Im ersten Drittel (Marion) und im letzten Drittel des Romans (Russ) erfahren wir in langen Rückblenden die Vorgeschichten des Elternpaars. Marions Weg als junge Frau ist ein ziemlicher Schocker, mit Abtreibung, Sanatorium und langem seelischen Leiden - aus dem sie der unerfahrene Russ stolz herausführt, ohne zu ahnen, dass dem Paar die sprachlose Austrocknung bevorsteht.
Diese strategisch platzierten Binnengeschichten, fast eigene kleine Bücher, sind das Beste an Franzens Roman. Er verurteilt nicht die rigiden Moralvorstellungen, die der jüngeren Generation wie Blei an den Füßen hingen, sondern bezeichnet sie; er schildert die Siebziger als Zeit der Liberalisierung und großer tektonischer Verschiebungen in einer heterogenen Gesellschaft, weigert sich aber ebenso, die Folgen dieser Brüche zu übersehen. Franzens große Stärke sind emblematische Szenen von wenigen Seiten, die einem als Leser ewig im Gedächtnis bleiben, darunter eine Fußwaschung, die uns zeigt, dass in der äußersten Demut die größte Überheblichkeit liegen kann (und umgekehrt). In der Begegnung des jungen Russ Hildebrandt mit den Navajos in Arizona, seinem vorurteilslosen Interesse und seinem Engagement führt uns der Autor in eine Zeit vor allen Identitätsdebatten und "Culture Wars" zurück, und plötzlich erscheint unsere eigene Zeit, ein halbes Jahrhundert später, so relativ wie alles, was aus größerer Entfernung betrachtet wird.
Ist das interessant? Sehr! Und gut geschrieben? Nicht immer. Sieht man sich die Dialoge genauer an, schauen viele von ihnen glasig zurück: Sie sind oft zu lang und illustrieren manchmal nur, was der Autor uns vorher schon erzählt hat. Besonders den Patzigkeiten zwischen Eltern und Kindern hätte Verdichtung gutgetan. Dasselbe ließe sich von mancher Beschreibung sagen, durch die Franzens Welt entsteht: Wenn ein Bus Verspätung hat, serviert der Autor uns zwölf Zeilen Lautsprecherdurchsage. Franzen überschüttet seine Leser mit Gegenständen, zählt Figuren und ihre Kleidung auf, malt fieberhaft an seinem Kolossalgemälde, als hätte er Angst, es könnte zu klein geraten, und wenn es an die Gedanken seiner Protagonisten geht, kommt die Wortmaschine aus dem Stampfen gar nicht mehr heraus.
So zum Beispiel stellt sich der fünfzehnjährige Perry Hildebrandt auf dem Weg zum Haus seines Kumpels, um Drogen zu erbetteln, die bevorstehenden Freuden vor: "Es würde ja wohl erlaubt sein, sich mal richtig zuzudröhnen, und sei es nur an diesem Abend. Er freute sich schon auf Joint um Joint in der zuverlässigen Abgeschiedenheit des Roder'schen Schwimmbadschuppens, spürte schon den bewusst herbeigeführten gewaltigen Exzess, konnte die alles Zukünftige verbannende Benebelung kaum erwarten, und der Ständer, den er von alledem bekam, wurde noch härter, als er sich vorstellte, mit welcher Lust er sich ihm, extrem bekifft, in dem Badezimmer widmen würde, das Roder sich mit seiner mageren, keine BHs tragenden Schwester Annette teilte, wenn sie vom College zu Hause war."
Natürlich ist das in gewisser Weise Rollenprosa; der Erzähler spricht durch das Bewusstsein seiner Figur. Aber es ist auch fürchterlich gestapelt, eins aufs andere, und die "keine BHs tragende Schwester" spielt im Roman nicht die geringste Rolle. Möglich auch, dass die erfahrene Übersetzerin Bettina Abarbanell ebenso in Zeitdruck geriet wie das Lektorat, denn der neue Franzen muss die wichtigsten Weltmärkte auf einen Schlag treffen wie der neue Bond.
Für die Textur selbst - teigig und grau, oft mit einer forcierten Witzigkeit, die an Schülerparodien von hohem Stil erinnert - ist die Übersetzerin jedoch nicht verantwortlich. "Er drückte ihren zarten Kopf an seine Brust, und in seinen langen Unterhosen manifestierte sich das Testosteron." Im Ernst? "Er schlich aus dem Bett, sich seiner selbst in der Dunkelheit des Pfarrhauses umso deutlicher bewusst, und stattete dem Bad einen onanistischen Besuch ab." Wir sprechen von einem jungen Mann. Wenige Zeilen später: "Das Bild von Marions taufeuchten dunklen Augen, ihrem zum Küssen reizenden Mund, ihrer schmalen Taille, ihrem schlanken Hals und den feingliedrigen Handgelenken war wie eine riesige, niemals ruhende Hornisse in die zuvor keusche Kammer seines Herzens geschwirrt." Gütiger! Man liest das so weg, was bleibt einem bei 830 Seiten auch übrig? Aber wer diesen garantiert poesiefreien Stil nachschmecken wollte, hätte nur Sand zwischen den Zähnen.
Schlimmer wird es, wenn konkret von Gefühlen die Rede ist, da greift Franzen nach der abgedroschensten Formulierung. Hier etwa ärgert sich die junge Becky über ihren älteren Bruder Clem: "Er schien sie für sein Eigentum zu halten. Sie kochte vor stummer Wut." Zwei Seiten später: "Blanker Hass durchströmte sie." Noch einmal zwei Seiten weiter: "Ihr Hass erreichte eine neue Dimension - Clem kam ihr regelrecht böse vor." Später, trotz Gottesdienst, "kochte das krankmachende Gefühl wieder in ihr hoch". Vielleicht hält sich der weltberühmte Autor inzwischen ja den Lektor vom Leib. Ein einziger Blick in die "Korrekturen" zeigt, was er eingebüßt hat.
Nun ist Romankunst kein Schönschreibwettbewerb, und gerade die realistische Erzählliteratur des neunzehnten Jahrhunderts, auf die Franzen sich gern beruft, konnte gut mit ein paar Klecksen auf der fleckigen Großleinwand leben. Henry James hat über den oft verspotteten Viktorianer Anthony Trollope gesagt, dessen immer gleich ausstaffierte fiktionale Welten seien genau das, was im Kunstgedächtnis der Nachwelt überlebe. Und so ist es gekommen. Denn wir brauchen nun einmal Erzählungen, auch wenn wir von den führenden Romanciers keine Heilsbotschaften mehr erwarten. Nur unterhaltsam müssen sie sein, am besten so gemütlich wie ausgelatschte Hausschuhe. So könnte man mit einigem Recht behaupten, Franzens Form des Großromans - ein weltweites publishing event, ein Ziegelstein, der in zahllose Buchhandlungen geschleppt wird und von dort in die Haushalte seiner Leser wandert - rege die lesende Mittelklasse zu Diskussionen an, die sie andernfalls niemals führen würde. Ziel erreicht.
Und das sollte man ihm gutschreiben. Der Autor schärft unser Empfinden für die eigene Zeitgenossenschaft. Er provoziert uns, wie er es in der Vergangenheit mit Umweltfragen oder dem Artenschutz getan hat, ohne öffentliche Prügel zu fürchten, und in seinem neuen Buch lädt er sich eine Last auf, die wenige in der westlichen Welt überhaupt noch tragen wollen: Glauben und Religiosität. Schuld, Vergebung, Bekehrung. Da sein Roman vor fünfzig Jahren spielt, schließt sich die Frage an: Haben wir nicht etwas vergessen, als wir die Metaphysik als Frömmelei abtaten und im Gegenwartsroman nicht mehr sehen wollten? Vielleicht sollten wir Graham Greene noch einmal lesen. Oder dem kürzlich verstorbenen polnischen Dichter Adam Zagajewski zuhören, der in der Jenseitslosigkeit der modernen Kunst einen Verlust gesehen hat. So greifen wir zu Franzens "Crossroads", dessen kostbarste Güter in einer ollen Pferdedecke auf einem Handkarren liegen, und rumpeln mit ihm über die Wege der Provinz, der Zukunft entgegen.
Siehe auch Seite 9.
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