Schon lange, seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden, seit Menschengedenken, schon immer eine andauernde Nutzung wird bei Lebensmitteln regelmäßig als verstärkendes, bestärkendes und letztlich beruhigendes Argument für sicheren und bekömmlichen Konsum angeführt. Das ist in zahlreichen Fällen richtig und erfüllt nicht selten seinen Zweck. Doch skeptische Blicke und sorgfältige Analysen auf längerfristige Entwicklungen verhelfen zu erhellenden Differenzierungen. Das hat Uwe Spiekermann vor einigen Jahren mit seiner auch im Journal Culinaire besprochenen Veröffentlichung »Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute« (Journal Culinaire No. 27, S. 145-148) eindrucksvoll gezeigt. In seinen Texten mahnt er eindringlich einen realistischen Geschichtsbezug in der Ernährungsdiskussion an (https://uwe-spiekermann. com/category/geschichten/). Denn überraschend vieles, was als neues Lebensmittel oder Trend angepriesen wird, erblickte unter anderen Vorzeichen schon vor geraumer Zeit das Licht der Welt.
Nicht erst seit Anna Lowenhaupt Tsings Essay »Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus«, Berlin 2018, ist ein überschäumendes Interesse an der nach Flora und Fauna dritten, durch Pilze charakterisierten Welt offensichtlich. Erst seit fünfzig Jahren ist sie als eigenständig klassifiziert. Aus und mit ihr erhoffen sich Protagonisten und Protagonistinnen vielfältige Anregungen und Erkenntnisse für die drängendsten Probleme der Gegenwart. Ist ein Zeitalter der Pilzphilie oder Mykophilie angebrochen?
Der Neuzeithistoriker Jon Mathieu nimmt die bemerkenswert positive Stimmung zum Anlass, gemeinsam mit dem früheren Direktor des historischen Museums Bern Jakob Messerli, einen lesenswerten Beitrag zu veröffentlichen: Die Entdeckung der Pilze in der Moderne. Das Beispiel Schweiz, 18. 20. Jahrhundert (in: Historische Anthropologie 32/1 [2024], S. 19-38). Die Autoren legen ihren Finger auf einen blinden Fleck im aktuellen Pilzhype. Ihre weitgehend auf die Schweiz beschränkten Beobachtungen bezüglich der Speisepilze konstatieren in der frühen Neuzeit eine grundsätzlich mykophobe Grundeinstellung. Die Nutzung der Speisepilze war »von überlieferten mykophoben Lehrmeinungen, von botanischen und später auch chemischen und ernährungswissenschaftlichen Forschungen und ihrer Popularisierung durch die zunehmende Zahl von Medien, von Versorgungslagen und Verdienstmöglichkeiten der breiten Bevölkerung, von Lebensmittelkontrollen « bestimmt. Sie vermuten, dass bei entsprechenden Forschungen orschungen die erhobene Grundeinstellung auch in an deren europäischen Regionen nachzuweisen wäre. Von der Mykophobie bis zur Mykophilie vergingen über eineinhalb Jahrhunderte. Schnell wurde die kritische Haltung den Pilzen gegenüber vergessen, nicht selten wird unreflektiert von einer seit Menschen-gedenken währenden Pilznutzung gesprochen.
Das Journal Culinaire macht regelmäßig auf die Pilzwelt aufmerksam nur in der Ausgabe No. 3 finden Pilze keine Erwähnung. Neben den vielen Arti-keln zu Fermentationen, die sicherlich zu den Lieblingsthemen des Journal Culinaire zählen, sei auf den Beitrag von Marco A. Fraatz und Holger Zorn Speisepilze generieren natürliche Aromen. Aus Reststoffen der Lebensmittelindus trie werden Duftstoffe im Journal Culinaire No. 17 oder von Verena Mittermeier-Klessinger Pfifferlinge. Schmackhaftes Gold aus heimischen Wäldern im Journal Culinaire No. 34 erinnert. Nun schien es an der Zeit, das Thema in den Fokus der No. 39 zu rücken.
Einen ordentlichen Platz nimmt in dieser Ausgabe die Ausstellung Pilze Verflochtene Welten ein, die vor einigen Wochen im Museum Sinclair-Haus der Stiftung Kunst und Natur in Bad Homburg vor der Höhe eröffnet hat. Der Beitrag der Direktorin des Hauses und Kuratorin der Ausstellung spricht für sich. Das zu jeder Ausstellung erscheinende, beispielhafte museumspäda-gogische Blattwerk (https://kunst-und-natur. de/files/Museum-Sinclair-Haus/Ausstellungen/ 24_Pilze/Blattwerke_22_Pilze. pdf) verdient ein besonderes Lob. Ebenso informativ ist das Begleitheft. Blattwerk wie Begleitheft sind auf der Webseite des Sinclair-Hauses abrufbar (https://kunst-und-natur. de).
Ihnen wünsche ich Genuss und differenziertes Verständnis bei allen Pilzen, denen Sie begegnen!