Besprechung vom 14.04.2020
Kriterien für die Prävention
Man muss begründete und unbegründete Ängste unterscheiden: Was Juli Zehs Roman "Corpus Delicti" in der Pandemie-Krise lehrt.
Gesund und sauber bleiben - kann das denn alles sein? So fragt Juli Zeh in ihrem 2009 erschienenen Roman "Corpus Delicti", der Negativ-Utopie einer Gesundheitsdiktatur in der Mitte unseres Jahrhunderts, die in einigen Aspekten vorderhand wie eine erzählerische Folie der gegenwärtigen Corona-Politik wirken könnte. Aber abgesehen davon, dass prognostische Kurzschlüsse zwischen Literatur und Lebenswelt die Zeitdiagnose generell eher behindern als befördern, ist in diesem besonderen Fall vorweg zu sagen: Trotz mancher Anklänge des Romans an die aktuelle Situation, was die Risiken eines prinzipiell uferlosen Präventionsgedankens angeht, überwiegen in der Sache die Unterschiede.
In der von Juli Zeh entworfenen Diktatur kann jemand gerichtlich vorgeladen werden, der sich folgender Vergehen schuldig gemacht hat: "Vernachlässigung der Meldepflichten. Schlafbericht und Ernährungsbericht wurden im laufenden Monat nicht eingereicht. Plötzlicher Einbruch im sportlichen Leistungsprofil." Man mag fragen: Sind wir, die Bürger der auf Bekämpfung von Covid-19 eingeschworenen Republik, nicht schon auf dem Weg in einen solchen Staat? Kommunalbeamte und Polizeigewerkschafter fordern uns dazu auf, Verstöße von Mitbürgern gegen die Kontaktverbote zu melden. Aber schon dieses Beispiel führt die Unterschiede vor Augen. Die Meldungen, was immer man von ihrer Nützlichkeit halten mag, sind als Akte des Bürgersinns konzipiert. Es ist kein System von Meldepflichten installiert worden.
Selbst bei den technischen Hilfsmitteln zur Rekonstruktion von Infektionswegen, denen lebensrettende Wirksamkeit zugetraut wird, betonen alle Autoritäten, dass ihr Betrieb nur auf freiwilliger Basis denkbar ist. Und weiter im Katalog der Roman-Vergehen: Die sportliche Ertüchtigung wird den Bürgern nicht vorgeschrieben, vielmehr begründet sie in allen Verordnungen und Allgemeinverfügungen den Schutzraum einer Freiheit, in die auch im gegenwärtigen Notstand nicht eingegriffen wird, weil man sich auch ohne Körperkontakt fit halten kann.
Auch besonnene Kommentatoren haben allerdings zur Beschreibung des Horizonts möglicher Nebenfolgen der Maßnahmen gegen die Pandemie den Begriff der Diktatur verwendet. So hat der Frankfurter Öffentlichrechtler Uwe Volkmann im "Verfassungsblog" ein entsprechendes Szenario als "zwar drastisch formuliert, aber als Befürchtung möglicherweise nicht übertrieben" bezeichnet. Volkmann bezog sich dabei auf eine Äußerung seines Göttinger Kollegen Hans Michael Heinig, der ebenfalls im "Verfassungsblog" geschrieben hatte: "Ungern fände man sich in einigen Wochen in einem Gemeinwesen wieder, das sich von einem demokratischen Rechtsstaat in kürzester Frist in einen faschistoid-hysterischen Hygienestaat verwandelt hat." So ist unsere Situation: Eine Befürchtung kann auch dann vernünftig sein, wenn man es für unwahrscheinlich hält, dass sie eintritt. Und das Aussprechen der Befürchtung kann das Eintreten unwahrscheinlicher machen.
In "Corpus Delicti" ist die politische Ausgangslage erkennbar eine andere: Geht es im Buch um Gesundheit um der Gesundheit willen, um ein mit diktatorischen Maßnahmen durchgesetztes Staatsprinzip ohne lebensbedrohlichen Hintergrund, so haben wir es in der hiesigen Wirklichkeit von 2020 mit temporären Strategien zur Eindämmung einer lebensgefährlichen Pandemie zu tun. Juli Zeh selbst stellt, auf ihren Roman als mögliches Deutungsmuster für die Corona-Politik angesprochen, in der "Süddeutschen Zeitung" klar: "Was wir auf alle Fälle festhalten können, ist, dass zurzeit tief in die Grundrechte von Bürgern eingegriffen wird, ohne dass die Rechtsgrundlage geklärt wäre. Man muss deshalb nicht gleich von einer Diktatur sprechen."
Diese Vorsicht muss indes nicht daran hindern, in der Darstellung des übergriffigen Potentials einer in staatliche Regie genommenen Präventionsidee den Roman "Corpus Delicti" als Warnung vor einem hygienepolitischen Durchregieren zu lesen, das sich zu den Grundrechten gerade nicht mit der gebotenen Verhältnismäßigkeit in Beziehung setzt. Die naturalistische Ideologie hinter einem solchen Kontrollprogramm kleidet "Corpus Delicti" in die rhetorische Frage: "Was sollte vernünftigerweise dagegen sprechen, Gesundheit als Synonym für Normalität zu betrachten? Das Störungsfreie, Fehlerlose, Funktionierende: Nichts anderes taugt zum Ideal." Doch von Seiten der Politiker, Bürokraten oder Gesundheitswissenschaftler hat es in einer nun seit Wochen intensiv geführten Debatte noch keine Äußerung gegeben, die in diesem Stil an die Ideologeme aus Aldous Huxleys Roman "Brave New World" erinnern würde. Ein anderes Ideal prägt die Einlassungen der Virologen und der von ihnen instruierten Regierenden: ein Lernen aus Fehlern, das die eigene Fehlbarkeit einkalkuliert. Dem entspricht das praktische Ziel der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems - in himmelweitem Gegensatz zur Wahnidee des perfekten Funktionierens.
Deshalb hat der Gießener Öffentlichrechtler Steffen Augsberg recht, wenn er, Verhältnismäßigkeit im Streit über die Verhältnismäßigkeit anmahnend, vor "Fundamentalkritik" warnt, was derzeitige vorübergehende Grundrechteeinschränkungen angeht: "Das kann unsere Demokratie ab, wenn wir eine Weile lang nicht demonstrieren dürfen", erklärte Augsberg bei der jüngsten Pressekonferenz des Deutschen Ethikrats, dessen Mitglied er ist: Zwar ist die Versammlungsfreiheit dem Begriff nach auf körperliches Zusammensein von Menschen angewiesen, aber Augsberg hält ihre Aussetzung jedenfalls zeitweise für hinnehmbar, weil sich die wichtigen Korrekturfunktionen, die von der Demonstrationsfreiheit ausgehen, "mit ähnlichen Effekten" auch anders verwirklichen ließen, etwa durch Online-Petitionen.
Augsberg macht einen bedenkenswerten Vorschlag dafür, wie sich das dystopische Potential einer gegebenen Normlage bestimmen lässt. Anders formuliert: wie man begründete und unbegründete Befürchtungen unterscheiden kann. Man könne, gibt Augsberg zu bedenken, heute nicht Risiken ausschließen wollen, welche man in Nicht-Corona-Zeiten durchaus hinzunehmen bereit wäre. In solcher Bereitschaft zu situationsadäquater Abwägung spricht sich keine Wurstigkeit im Umgang mit Grundrechten aus, sondern die Warnung vor einer Hundertzehnprozentigkeit, die wir auch in normaler Zeit nicht als Maßstab anlegen würden. Insoweit gilt Augsbergs Appell, die Diskussion über Grundrechteeinschränkungen unter realistischen und nicht unter absoluten, lebensfremden Maßstäben zu führen. Nur so, in der Verständigung über triftige Maßstäbe der Grundrechtswahrung, würden sich auch die Kriterien gewinnen lassen, anhand derer man mit begründeten Schritten zu einer "Quasinormalität" zurückkehren könne.
Der Staat in "Corpus Delicti" entledigt sich dagegen im Namen der Prävention aller Rechenschaftspflichten. Juli Zeh lässt ihre Romanheldin Mia Holl, die Anormale, die Rebellin gegen die Gesundheitsdiktatur, ein J'accuse formulieren: "Ich entziehe einer Sicherheit das Vertrauen, die eine letztmögliche Antwort sein will, ohne zu verraten, wie die Frage lautet." Es mag heute jeder Bürger selbst entscheiden, ob er Grund für diese radikale Maßnahme des moralischen Selbstschutzes hat. So kann die literarische Kontrastfolie einer Gesundheitsdiktatur helfen, die tatsächlichen Verhältnisse mit Augenmaß zu beurteilen.
CHRISTIAN GEYER /PATRICK BAHNERS
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