Ein großartiger Roman, erzählerisch spannend und mit dem Thema Mobbing hochaktuell
Ein tief beeindruckender Roman. 1989 geschrieben und dabei mit dem Thema Mobbing und seinen Auswirkungen nach wie vor hochaktuell. Ich kann mich sehr selten mit Charakteren in Büchern identifizieren und wirklich mitleiden, manchmal höchstens partiell, bei diesem Roman war es anders. Das ist wirklich ein sehr erschütterndes Portrait emotionaler Grausamkeit, das mich im ersten Teil sehr mitgenommen hat.Worum geht es?Die achtjährige Elaine lebt mit ihren Eltern und ihrem Bruder ein Nomadenleben. Sie übernachten in Zelten, einfachen Unterkünften oder im Wald. Ihr Vater ist ein Insektenforscher und reist, Schädlingsepidemien auf der Spur, durch Kanada. Erst nach dem Krieg findet er eine Anstellung als Biologieprofessor in Toronto. Dort lernt Elaine mehrere gleichaltrige Mädchen kennen, die tiefreligiöse Grace, die reiche und verwöhnte Carol - und schließlich auch Cordelia. Die Mädchenfreundschaft entwickelt sich jedoch schnell zu einem Albtraum aus Hass, Zwang und Demütigungen.KritikDie Geschichte wird aus der Perspektive von Elaine erzählt, die auf ihre Kindheit zurückblickt. Sie ist Künstlerin, in mittlerem Alter und kommt nach Toronto zurück, wo sie sich den Gespenstern ihrer Vergangenheit stellen muss. Im ersten Teil wird die Geschichte der Mädchenclique nacherzählt. Das macht Atwood sehr geschickt, etwas stimmt nicht, das Verhalten wird merkwürdig, und dann, ganz langsam, stetig gibt es unter den Mädchen eine Dynamik, die sich nicht mehr aufhalten lässt. Ich habe mich beim Lesen gefragt, wo, an welchem Punkt eigentlich alles aus dem Ruder gelaufen ist, an welcher Stelle Elaine vom Mitglied der Gruppe zu ihrem Opfer wurde, was die Gründe sind. Ich kann es nicht ausmachen. Und das ist Atwoods Erzählkunst. Wie im wahren Leben kann man keinen Anfangspunkt, keinen Anlass, keine Ursache benennen, alles beginnt so schleichend und dann mit so großer Wucht. Elaine findet keine Möglichkeit, sich mitzuteilen. Das Umfeld schweigt, schaut weg, nimmt nicht ernst. Dass die Erzählung einen so mitnimmt, liegt aber auch daran, dass sie konsequent im Präsens erzählt ist. Das hat hier seine eigene erzählerische Dynamik und zeigt für mich ein Stück weit auch die Auswirkungen auf die erwachsene Elaine, für die Teile ihrer Kindheit immer präsent sein werden und nie abgeschlossen.Als Erwachsene findet Elaine in der Kunst ein Mittel der Kommunikation und ein MIttel, ihre Kindheitstraumata zu verarbeiten. Cordelia bleibt, auch wenn sie nicht mehr da ist, stets gegenwärtig. In den Gedanken, als Geist, als Person.Elaine ist ein eigenartiger Charakter, der auch dem Leser in Teilen verschlossen bleibt, wieviel davon auf die Erlebnisse ihrer Kindheit zurückzuführen ist, wieviel einfach ihre Persönlichkeit ist, vermag ich als Leser nicht auszumachen. Atwood lässt uns Anteil haben an ihren Gedanken, ihren Beobachtungen, den Prozessen hinter der Entstehung ihrer Bilder. Interessant ist, dass die Beschreibungen der kindlichen Elaine nicht so klingen, als wären sie durch den Filter der 50jährigen gegangen. Nein, man hat den Eindruck die Wahrnehmungen des kleinen Mädchens zu teilen, während die Reflexionen der älteren Elaine reifer, philosophischer sind. So ändert sich auch der Blick auf Cordelia. Der Leser versteht etwas mehr, aber nicht so viel mehr, als dass Cordelias Verhalten irgendwie gerechtfertigt oder entschuldigt wird. Das hat Atwood meiner Meinung nach sehr geschickt gemacht. Ein paar Punkte verwirren mich und lassen Fragen offen, so zum Beispiel die Rolle des Karmas. Das ist natürlich gut. Denn ein Roman soll und darf nicht alle Fragen beantworten. Und das ist auch nicht Atwoods Stil. Sie belehrt nicht, sie offenbart, legt in aller Schonungslosigkeit und Offenheit dar, sie beschreibt und der Leser wertet.Und ich bewerte den Roman als einen der besten, die ich je gelesen habe. Ein Roman, der gelesen, der diskutiert werden kann und sollte. Der auf keinen Fall ein Schattendasein neben dem Report der Magd fristen darf.