Lesenswert, bemerkenswert, liebenswert - phantstisch
Beginnen möchte ich mit diesem Zitat: "Wieder war es, als ob von dem alten Haus in der Auguststraße unsichtbare Fäden ausgingen, die es mit beinahe jedem Haus, jedem Ort und jedem Leben verbanden.""Das vergessene Haus" ist die Geschichte einer so umfangreichen Recherche, dass ich nach der Hälfte des Buches beinahe aufgegeben hätte. Zu viele Einzelschicksale, zu viele Blicke in die Vergangenheit, zu viele Fäden führten immer wieder zur jüdischen Gemeinde und den Häusern in der Auguststraße. Dass niemand über das Krankenhaus, die Kinderheime, die Deportationen sprach oder davon wusste, ist aus heutiger Sicht unverständlich, denn heute findet man Gedenktafeln, ein Holocaustdenkmal, ein jüdisches Museum und Hunderte Stolpersteine in der Stadt. Ja, es stimmt, in der DDR wurde das Wort "Jude" nicht gern gehört, niemand sprach es an, wenn einer "jüdisch" war. Das wollte man lieber nicht betrachten, in eine Synagoge zu gehen, war schon heikel, die Staatssicherheit war nicht selten Gast in den lichten Reihen der Besucher in der Rykestraße. Gegen Ende der DDR-Zeit änderte sich das etwas, aber man sah das Jüdische doch eher folkloristisch, Klezmermusik wurde gespielt, jüdische Kulturtage abgehalten, "Vorzeigejüdin" Lin Jaldati sang ihre Lieder. Später wird die Synagoge in der Oranienburger Straße wieder aufgebaut, die DDR meinte wohl, damit "weltoffen" zu sein. Aber sie war verkalkt und unterschwelligen Antisemitismus gab es überall.Nun erhielt ich dieses Buch von Regina Scheer in dritter Neuauflage als E-Book, die vorherigen Ausgaben waren nur in gedruckter Form erschienen. Ich hatte bereits "Machandel" gelesen, auch dieses Buch nur zufällig gefunden und den Stil von Regina Scheer sehr bewundert. Auch in jenem Buch findet sich ein Rückblick auf braune Geschichte, wenn auch in ganz anderer Form.Irgendwann konnte ich AHAWAH doch nicht mehr weglegen, immer mehr Personen tauchten auf, Krankenschwestern, Ärzte, Kinder, immer gefährlicher wurde das Leben unterm Hakenkreuz. Für mich eine besondere Freude, dass es doch noch einige Tausend Juden schafften, nach Palästina oder in andere Länder zu emigrieren. Ohne sie wäre Israel heute nicht der Staat, der er geworden ist. Aber nicht allen gelang die Auswanderung bzw. die Flucht in die Freiheit. Viele Schicksale enden in den Gaskammern im "Osten", auf Vermögenserklärungen steht: Abgewandert in den Osten. Von den Kindern und den Greisen gibt es oftmals gar keine schriftlichen Hinweise, manche stehen nicht einmal auf einer Transportliste.Und so las ich das ganze traurige Buch doch bis zum Schluss, fieberte mit Regina Scheer um jeden Hinweis, den sie erhaschte. Heute würde ihr manche Recherche erleichtert werden, das Internet half mir sehr, auf die Spuren meiner Angehörigen zu kommen. Aber der Weg in die Archive ist auch heute noch ein Muss, nur in die Oberfinanzdirektion in Westberlin muss man nun nicht mehr, diese Akten sind im Brandenburgischen Landeshauptarchiv gelandet. Den Westberliner Beamten kann ich mir gut vorstellen, kein angenehmer Zeitgenosse, auf den Regina Scheer da angewiesen war.Ganz wunderbar beschrieben sind ihre Begegnungen in Israel, das sie nach der Wende endlich und mehrmals besuchen konnte. Dort fand sie Spuren der Überlebenden und der Nachkommen, Bilder und Tagebücher einer vergangenen Zeit. Dass der eine oder andere Überlebende den Besuch in Berlin wagte und mit ihr die altbekannten Wege ging, ist sehr berührend. Dass nur wenig tatsächlich übrig geblieben ist in der Auguststraße und im ganzen Viertel, scheint angesichts dieses Buches ein wenig kompensiert zu werden. AHAWAH bleibt so für alle Zeit in Erinnerung.Es fällt mir trotzdem schwer, eine direkte Kaufempfehlung auszusprechen angesichts eines Buches, das so ins Detail geht. Da muss der Leser an der jüdischen und Berliner Geschichte schon sehr interessiert und geduldig sein, um das alles aufzunehmen. Ich aber werde das Buch sicher noch einmal zur Hand nehmen und darin lesen, das Namensverzeichnis erleichtert ein wenig die Orientierung, wenn man etwas Bestimmtes sucht.Ich kann Regina Scheer für diese Mammutarbeit nur herzlich danken, denn ich kann nachvollziehen, wie viele Stunden, Tage, Jahre sie damit verbracht hat. Ganz sicher auch mit einigen schlaflosen Nächten, in denen ihr, so wie mir jetzt beim Lesen, die Gedanken an die Auguststraße nicht aus dem Kopf gingen. #AHAWAHDasvergesseneHaus #NetGalleyDE