Raffiniert ausgedachte Geschichte mit vielen Anleihen aus der historischen Realität und einer netten Volte am Ende
Der Originaltitel dieses Romans hieß "Fatherland". Er erschien 1992 und war das Debüt des britischen Schriftstellers. Harris unterstellt, dass Adolf Hitler hat mit seinen Nationalsozialisten den Krieg gewonnen hat und jetzt Ost-Europa bis zum Ural beherrscht. Die Handlung erstreckt sich über eine Woche im Jahr 1964. Diese Woche endet am 20.04.1964, also am Geburtstag des Führers.Der Kriminalpolizist Xaver März beginnt mit den Ermittlungen zum Tod eines hochgestellten Nationalsozialisten. Wegen der Wichtigkeit der toten Person zieht die Gestapo den Fall schnell an sich. Doch März ermittelt entgegen seiner Anweisungen auf eigene Faust weiter, was ihn in große Gefahr bringt, zumal es nicht der einzige Tote bleibt.Harris vermischt hier zum Teil sehr gekonnt historische Tatsachen und eigene Fantasie, z.B. in der Person von Odilo Globocznik, der im Buch bei einer Leiche gesehen wird, obwohl der historische Odilo Globocnik (sic!, nur mit "c") bereits 1945 gestorben ist. Ähnliches bei Unterstaatssekretär Martin Luther und Staatssekretär Wilhelm Stuckart und weiteren Personen, deren historisches Leben er verändert. Auch der amerikanische Präsident Joseph P. Kennedy entspricht nur fast der historischen Figur (John F. Kennedy). Der echte Joseph P. Kennedy war Johns Vater. Im Anhang erläutert der Autor, dass die Lebensläufe echter Personen bis 1942 der historischen Realität entsprächen.Der Roman enthält einige pfiffige Ideen, z.B.: "Seit 1959 hatten die Kinder zu Führers Geburtstag eine Woche frei, statt zu Ostern." (Stern Krimi-Bibliothek 2005, S. 36) oder die Nachrichten des Berliner Tageblatts, das u.a. eine Musikkritik über das "gefährliche, negroide Gejaule eine Viererbande junger Engländer aus Liverpool" beinhaltet (ebd., S 50).Das Bild, das der Autor von diesem nationalsozialistischen Staat entwirft, ist durchaus sehr realitätsnah. Man kann sich als Leser problemlos vorstellen, dass die Geschichte sich so entwickelt hätte, wenn Deutschland den Krieg wirklich gewonnen hätte. Die Gigantomanie der Nationalsozialisten ist ja historisch und die Pläne für einzelne Bauwerke in Berlin, die nun im Roman verwirklicht sind, gab es ja wirklich, z.B. für die Große Halle.Nicht besonders gut gemacht ist die Aufklärung darüber, wie die politische Lage sich insgesamt darstellt. Zur Veranschaulichung des deutschen Herrschaftsgebiets ist im Anhang eine Karte eingefügt, die leider nicht besonders hilfreich ist, weil sie mehr verwirrt als darstellt (ebd., S. 230/231). Mit den USA befindet sich Deutschland in einer Art "Kaltem Krieg", mit dem Rest der Sowjetunion im Krieg im Osten. Ansonsten beherrscht Deutschland Ost-Europa bis zum Ural und hat die westeuropäischen Staaten in eine Art Handelsgemeinschaft gezwungen. Die genaue Art ihrer Abhängigkeit ist nicht so ganz klar. Die kleine Schweiz ist weiterhin neutral. Doch diese Darstellung erfolgt nur scheibchenweise im Laufe des Romans, so dass der Leser lange Zeit auf Spekulationen angewiesen ist, was dem Roman ein bisschen Verständlichkeit nimmt.Eine Frage, die sich März im Gespräch mit der ihn begleitenden Amerikanerin stellt, dürfte exemplarisch sein für Menschen, die plötzlich erkennen, dass sie nicht den richtigen Mächten dienen: "Was soll man tun, wenn man sein Leben der Jagd nach Verbrechern geweiht hat und dann nach und nach entdeckt, dass die wirklichen Verbrecher die sind, für die man arbeitet?" (ebd., S. 236) Vier Sterne.