Vorweg ein Geständnis: Ich lese eigentlich keine Krimis und den "Tatort" im Fernsehen schaue ich auch nicht. "Gallo Rosso", das neue Buch von Roman Rausch, habe ich mir geholt, weil ich die historischen Romane des Autors kenne und sehr schätze. "Das Caféhaus", "Die letzte Jüdin von Würzburg", "Die Brücke über den Main" und andere; zuletzt "Die Schwarzkünstlerin" mit einer völlig neuen Sichtweise auf das Faust-Thema. Die Bücher sind akribisch recherchiert und spannend erzählt. Nun also ein Krimi! In gewisser Weise zurück zu den Wurzeln, denn Roman Rausch wurde bekannt mit seiner Reihe um genau jene beiden Ermittler, die auch jetzt wieder im Zentrum der Handlung stehen. Zehn Jahre ist es her, dass der letzte von bisher sieben Bänden aus diesem Zyklus erschienen ist. Eine ganz schön lange Zeit.
Der Titel Gallo Rosso, "Roter Hahn", verrät zunächst nicht, worum es gehen könnte, aber mal ehrlich, das Cover ist doch schon der Knaller (!), Spannung lässt sich wohl kaum besser in Grafik und Schrift ausdrücken. Das sticht am Büchertisch heraus und weckt die Neugier!
Ich kenne die Protagonisten zwar nicht aus den vorangegangenen Werken, aber rasch wird deutlich, sie sind älter geworden, klar (!), und haben sich auch im Wesen verändert oder weiterentwickelt. Das Leben hat beiden auf unterschiedliche Art und Weise zugesetzt. Kilian, jetzt Mitte 50, ist zwar physisch noch immer topfit, aber psychisch verhärmt und ein von verschiedensten Motiven der Seele Getriebener. Er jagt zusammen mit seiner Harley kreuz und quer durch Italien einem Phantom namens "Gallo Rosso" hinterher, von dem nicht einmal klar ist, wer oder was das überhaupt ist. Ein Mann, eine neue unbekannte Mafia-Organisation im Verborgenen? Er weiß nur eines, "Gallo" ist verantwortlich für den Anschlag auf dem Würzburger Weihnachtsmarkt, bei dem fünf Jahre zuvor ein Heizpilz explodierte und seine Lebensgefährtin Pia ums Leben kam. Auch Kommissar ist Kilian nicht mehr, sondern lebt davon, dass er sich um die Sicherheitsbedürfnisse der Anwesen reicher Leute kümmert. So hat er alle Freiheiten zu tun, was er einfach tun muss, um schließlich (vielleicht) auch sich selbst zu befreien. Im Millieu des organisierten Verbrechens führt eine Spur zur nächsten, ein Informant zum anderen, ein Ort an einen weiteren. Nichts ist so, wie es zu sein scheint. Lüge und Wahrheit sind nicht zu unterscheiden. Dennoch kommt er "Gallo" näher, ¿ oder vielleicht doch nicht?
Heinlein ist ebenfalls nicht mehr derselbe. Frau weg (jetzt eine rechtsextreme, geltungssüchtige Politikerin), Familie zerbrochen, sein ehemaliger Kollege und Freund verschollen. Was bleibt ist die Arbeit als Würzburger Polizeichef, der er mittlerweile ist. Aus der desillussionierten Geruhsamkeit holt ihn unvermittelt ein Selbstmordanschlag auf einen ICE zurück. Etwas, das der Attentäter kurz vor der Explosion rief, lässt ihn nicht mehr los. "Gallo", das Hirngespinst des verschwundenen Kilian. Heinlein geht der alten Spur in die Vergangenheit nach und bald schon türmt sich Ungeheuerliches auf. Es existiert eine unerkannte Welt in der Welt, ein Staat im Staat, ein freilich digital gestütztes Darknet aus Fleisch und Blut. Mitten unter uns! Die Wege der Protagonisten führen schließlich mehr und mehr aufeinander zu.
Roman Rausch baut in "Gallo Rosso" ein Szenario düsterster Machenschaften aus organisiertem Verbrechen, Wirtschaft und Politik zusammen. Populismus, Fanatismus, Extremismus, Verschwörungsgetöse, digital kriminelle Energie und Durchleuchtung sind nur einige der ineinander verzahnt genutzten Instrumente, denen Staat und Gesellschaft ausgeliefert zu sein scheinen. Schicht für Schicht setzt es sich zusammen, man bemerkt es beim Lesen zunächst kaum. Und das wirklich Beunruhigende daran ist, dass es genau so tatsächlich auch sein könnte. - Fiktion oder denkbare Wirklichkeit? Der Plot ist ebenso detailreich wie schlüssig zusammengestrickt und geht mit einem gleichzeitigen Gefühl aus Beklemmung und Faszination durchs Ziel.
In Stil und Sprache musste ich mich zunächst ein wenig einlesen, weil der Duktus hier ein ganz anderer ist als in den Historischen Erzählungen von Roman Rausch. Stakkatoartige Satzfolgen, Gedankenfetzen aus den Köpfen der Protagonisten, Szenenwechsel mit offenem Ausgang, ebenso Vergangenheit und Gegenwart. Roman Rausch nutzt die Klaviatur sprachlicher Stilmittel sehr gekonnt und präzise aus, um Atmosphäre, Geschwindigkeit, Handlungsverdichtung oder auch das Innere seiner Figuren mitsamt ihrer Seelen- und Motivlage glaubwürdig zu transportieren. Nachdem ich drin war in diesem Stil, der echten Krimilesern sicher nicht unbekannt sein dürfte, kam ich da auch nicht mehr raus. Im Aufbau vermittelt neben weiteren solcher Elemente die Nachrichtenlage zusätzlich ein Gefühl auch ganz persönlicher Mitbetroffenheit, denn im sehr aktuellen Zeitgeschehen von zum Beispiel Corona und Lockdown sitzen wir doch alle in diesem Boot.
Fazit: "Gallo Rosso" von Roman Rausch ist nicht nur ein praktisch tagesaktueller Krimi, sondern auch im Thema der Verflechtungen von Mafia und beispielhaft rechtsextremen Netzwerken inmitten staatlicher Strukturen hochbrisant. Reich an kleinsten Details, spannend, atmosphärisch dicht, wendungsreich. Die Handlung ist plausibel, die Charakterzeichnungen der Figuren sind beeindruckend gelungen und tiefblickend, ¿ vorsichtig ausgedrückt. So soll es doch sein bei einem guten Buch. Gut möglich, dass mein erster Krimi nicht der Letzte ist.