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Besprechung vom 09.10.2024
Auf Biegen und Brechen
Samira Akbarian präsentiert zivilen Ungehorsam als eine Form von Rechtsauslegung
"Sie hier?!", soll der 1846 wegen Steuerverweigerung aus Gewissensgründen inhaftierte amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau von einem Besucher in seiner Zelle gehört bekommen haben. "Lassen Sie mich vielmehr fragen, warum Sie noch nicht hier sitzen", soll seine Antwort gewesen sein. In der schroffen Umkehrung der Rechtfertigungslast zeigt diese Anekdote, durch welch zerklüftetes Gelände zwischen Legalität und Legitimität die Frage des öffentlichen Ungehorsams sich wälzt.
Seit Thoreaus Schrift "Civil Desobedience" mit dem Beiwort des Zivilen versehen, ist der öffentliche Ungehorsam bei Hannah Arendt, John Rawls, Jürgen Habermas von der Politik, der Moral und vom Staatsrecht her vielseitig reflektiert worden. Klimaaktivisten bringen mit ihren Sitzblockaden, Baumbesteigungen und Denkmalbesprühungen das Thema fast täglich neu ins Gespräch, und die Literatur dazu ist schon beträchtlich. Mit ihrem Buch legt die Frankfurter Rechtswissenschaftlerin Samira Akbarian einen juristisch präzis argumentierenden und mit konkreten Fallbeispielen aus der jüngeren Rechtsgeschichte operierenden Theorieentwurf zum zivilen Ungehorsam vor, der auch klare Positionierungen nicht scheut.
Die Grundthese wird von Anfang an offen benannt. Aktionen des zivilen Ungehorsams bewegen sich außerhalb des repräsentativ-demokratischen Mehrheitsprinzips, bleiben aber für die Autorin in der Grauzone der Legalität, denn den zivilen Ungehorsam versteht sie als eine Form von Verfassungsinterpretation. "Durch Rechtsbruch wird Recht interpretiert."
Gestützt ist diese These auf die geläufige Definition des zivilen Ungehorsams seit Rawls als einer öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten, aber gesetzeswidrigen Handlung, mit dem Ziel, eine Änderung des Gesetzes oder der Regierungspolitik herbeizuführen. Klima- und Black-Lives-Matter-Aktivisten opponieren nicht gegen die Verfassung, sondern berufen sich meistens gerade auf sie, verstoßen aber in ihrem Kampf absichtlich gegen Gesetze. Dieser Deutungs- und Ermessensspielraum hat seine philosophischen Hintergründe. Die Autorin führt Überlegungen des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde an, speziell seinen Hinweis auf die paradoxe Natur des demokratischen Rechtsstaats, der eine freiheitliche, säkularisierte Ordnung voraussetzt, sie aber nicht zwingend herleiten und nicht garantieren kann. Claude Lefort sprach in diesem Zusammenhang von einer "Leerstelle" und einer "radikalen Unbestimmtheit" im Machtzentrum der Demokratie.
Interessant sind in Akbarians Buch aber vor allem die Stellen, wo die Deutungsoffenheit anhand der Spitzfindigkeiten und Ungereimtheiten konkreter Gerichtsurteilsfälle aus der jüngeren Vergangenheit abgehandelt wird. So entschied etwa das Oberlandesgericht Naumburg 2018 im Fall einer Gruppe von Tierschutzaktivisten, die in einen Mastbetrieb eingebrochen waren, um Verstöße gegen Tierschutzgesetze zu dokumentieren und an die Behörden weiterzuleiten, auf Freispruch, obwohl der Strafbestand des Hausfriedensbruchs eindeutig erfüllt war. Hier habe ein rechtfertigender Notstand vorgelegen, nachdem alle legalen Wege der Informationsbeschaffung ausgeschöpft waren, lautete die Begründung. Anders in einem ähnlichen Fall in Baden-Württemberg. Statt um den Nachweis eines gesetzeswidrigen Zustands, lautete das Urteil dort, sei es den Aktivisten bei ihrem Einbruch um ein generelles Denunzieren der Massentierhaltung gegangen, deren Bedingungen der Öffentlichkeit ja bekannt seien, was eine Rechtfertigung des Hausfriedensbruchs ausschließe.
Die Schaffung von Rechtsunsicherheit ist ein häufig vorgebrachter Einwand gegen Toleranz in Sachen ziviler Ungehorsam. Die Autorin weist ihn zurück mit dem diskutablen Argument, wichtiger als die Autorität der Gerichtsinstitutionen sei in der Demokratie, die Autorität nicht autoritär werden zu lassen. Kontroverse Gerichtsurteile sind für sie geradezu ein Zeichen lebendiger Demokratie, deren Gesetze nicht endgültig und eindeutig in Stein gehauen, sondern etwas Gemachtes und damit Wandelbares seien. "In der Demokratie kann alles auch immer anders sein", schreibt sie mit forscher Apodiktik.
Der zivile Ungehorsam erfüllt in diesem Prozess der demokratischen Rechtsschaffung ihrer Einschätzung nach eine dreifache positive Funktion. In seiner rechtsstaatlichen Funktion hilft er, innerhalb des demokratischen Rechtsstaats Lücken zwischen gerecht und nicht ganz gerecht zu schließen. In der demokratischen Funktion erlaubt er, die Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft zu hinterfragen. Durch seine ethische Funktion schließlich kommt - wie im Fall des gegen die Ordnung verstoßenden Sokrates - die Dimension des Wahrheitsanspruchs ins demokratische Spiel. Streng beurteilt die Autorin deshalb die Richtersprüche, die systematisch zu verhindern suchen, dass Sitzblockaden sich als Mittel der politischen Kommunikation in der Gesellschaft einbürgern.
Doch kommt auch Samira Akbarian nicht umhin, der Interpretierbarkeit von Gesetzen Grenzen zu setzen. Was würde sonst die Aktion von Klimakämpfern und Antirassisten vom Marsch der Trump-Anhänger im Januar 2021 aufs Kapitol in Washington, vom Berliner Aufmarsch 2020 gegen die Corona-Politik oder von den Mahnwachen der vor Frankfurter Frauen-Beratungsstellen öffentlich betenden Abtreibungsgegner unterscheiden? Alle berufen sich auf die Verfassung, die Klimaaktivisten auf den Artikel 20 a des Grundgesetzes zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, die Abtreibungsgegner auf Artikel 2 Absatz 2 zum Recht aller auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Die Interpretationsoffenheit der Gesetze ist für die Autorin dort zu Ende, wo die Anerkennung aller Menschen als Freie und Gleiche infrage gestellt wird. Die etwas windige Allgemeinheit dieses Postulats sucht sie mithilfe dessen zu stabilisieren, was Hannah Arendt als ein "Recht auf Rechte" thematisierte: ein nicht nur allgemein deklariertes, sondern von einer jeweils konkreten politischen Staatsgemeinschaft verbürgtes Menschenrecht auf Freiheit und Gleichheit. Das führt von den juristischen Formkriterien des Protests zur Substanz des jeweiligen Protestanliegens. Unterschiedlich kann im Protest die angesprochene Öffentlichkeit sein. Richten die zivil Ungehorsamen des Klimakampfs sich bei ihren Aktionen gegen die Weiterfahrt von Kraftfahrzeugen unter dem Einsatz ihrer eigenen körperlichen Verletzlichkeit an die Allgemeinheit, schreibt Akbarian, so hätten sich die Abtreibungsgegner in Frankfurt vorwiegend an Einzelpersonen, nämlich die ratsuchenden Frauen, gewandt und deren Verletzlichkeit ausgenutzt.
Bleibt die Frage, ob ein auch gewaltbereiter Ungehorsam "zivil" genannt werden kann. Die Autorin verneint diese Frage, bringt aber geschickt eine Überlegung Judith Butlers ins Spiel. Gegen Thomas Hobbes, der das Gleichheitsprinzip unter den Menschen auf die Tatsache gründete, dass jeder jeden töten kann und deshalb ein Staat nötig ist, stützte die Amerikanerin es umgekehrt darauf, dass wir alle gleichermaßen getötet werden können und deshalb Gemeinschaft brauchen. Statt Gewaltlosigkeit als eine vollkommen aggressionsfreie Praxis zu betrachten, suchte Butler sie in ihrer eigenen, spezifischen Aggressivität zu betrachten. Diese besteht für Akbarian insbesondere darin, im Kampf die eigene Verletzlichkeit als "Kraft der Gewaltlosigkeit" in Stellung zu bringen, wie die großen Figuren des zivilen Ungehorsams, Gandhi oder Martin Luther King, es vorgemacht haben.
Eine ausgereifte Theorie des zivilen Ungehorsams ergibt das noch nicht, wie die Autorin selbst zugibt. Systematik und Kasuistik scharren da nebeneinander und wirbeln Begriffsstaub auf. Ob wirklich mit dem Feinsieb der Freiheit und Gleichheit der "gute" vom "schlechten" Rechtsbruch säuberlich getrennt werden kann, bleibt offen. Die Studie ist aber eine wertvolle Hilfe im gegenwärtigen Debattenhickhack um eine widerspenstige Sache, bei der schon Sokrates einst sich als Philosoph und als Stadtbürger zerrieb. JOSEPH HANIMANN
Samira Akbarian: "Recht brechen". Eine Theorie des zivilen Ungehorsams.
C. H. Beck Verlag, München 2024.
172 S., br.
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