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Besprechung vom 07.11.2023
Impulse aus der Gegenwelt
Entwickler brauchen Zeit: Stefan Mey sieht sich erfolgreiche Projekte im Netz abseits der Megakonzerne an
Nach gut dreißig Jahren des kommerziellen Internetbooms fällt es schwer, vor lauter Großkonzernen das Netz, auf das sich der Reichtum der Silicon-Valley-Oligarchen gründet, überhaupt noch wahrzunehmen. Deshalb ist es gut, wenn jemand den Blick auf die scheinbar kleiner werdenden Räume zwischen Amazon, Google, Meta, Microsoft und Apple richtet.
"Eine andere digitale Welt ist möglich", schreibt der deutsche Journalist Stefan Mey. Er sieht einen "Kampf um das Internet" und porträtiert Unternehmen, Produkte und Initiativen, die abseits der besagten Megakonzerne im Netz erfolgreich sind. Mey spricht mit renommierten Experten wie dem Wirtschaftswissenschaftler Leonhard Dobusch oder dem Mediensoziologen Volker Grassmuck, auch mit Praktikern wie Florian Effenberger, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Stiftung, die sich um die freie Bürosoftware Libre Office kümmert, oder mit der Hackerin Elektra Wagenrad, die sich mit der Initiative Freifunk um alternative Netzinfrastrukturen verdient gemacht hat.
Dargestellt werden Werdegang, Organisationsform und gegenwärtiger Status von Projekten wie der Wikipedia oder ihres Geodaten-Pendants Open-Street-Map, des Fediverse mit seinem prominenten Twitter-Konkurrenten Mastodon, des Messengers Signal oder des Browsers Mozilla. Von ansatzweise basisdemokratischer Meritokratie (Wikipedia, Open-Street-Map) bis hin zur obskurantistischen "freundlichen Diktatur" eines einzelnen Finanziers (Signal) reicht da die Spannbreite. Obwohl sie oft nicht in das vom Buchtitel heraufbeschworene Kampfszenario passen, geht Mey ausführlich auf die zahlreichen Paradoxien ein, mit denen freie Internetprojekte leben und arbeiten müssen. So gibt es im Bereich der Zugriffsebene auf das World Wide Web oberflächlich eine Opposition zwischen dem nutzerdatenhungrigen Google-Browser Chrome und dem freien Browser Mozilla Firefox. Letzterer finanziert sich jedoch zu einem guten Teil dadurch, dass Google Mozilla Geld dafür überweist, in Firefox werkseitig als Suchmaschine voreingestellt zu sein - womit Google auch an Daten von Firefox-Usern kommt. Auch gibt es Konzerne, die Softwareentwicklern schlicht Zeit geben, an freien Projekten wie Libre Office mitzuarbeiten.
Entwicklerzeit, stellt Mey fest, sei auch einer der wichtigsten Faktoren, weswegen viele erfolgreiche "alternative" Netzprojekte ihre Heimat in Deutschland gefunden hätten. Der hierzulande (noch) existierende Sozialstaat, der den Menschen neben der Erwerbsarbeit noch Raum und Zeit für ehrenamtliche Tätigkeiten lasse, begünstige Entstehen und Pflege freier Projekte. Die zunehmende Verschulung der Universitäten hingegen - Stichwort "Bologna" - würge die dort noch bestehenden Freiräume zusehends ab.
Die von Mey untersuchten Phänomene sind divers, reichen von primär publizistischen Unternehmungen wie der Wikipedia bis hin zu Infrastruktur-, Soft- und Hardwareprojekten. "Wikileaks" mag so ähnlich klingen wie "Wikipedia", Zielsetzungen und Organisationsform liegen aber weit auseinander. Um dieses Spektrum unter einen Hut zu bringen, verwendet Mey den Begriff "digitale Gegenwelt". Das klingt so ähnlich wie die "Gegenkultur" der Sechzigerjahre und damit auf den ersten Blick schlüssig.
Der Begriff ist aber aus zwei Gründen unglücklich gewählt. Erstens gelten die von Mey festgestellten Probleme nicht nur für Mozilla oder Libre Office. Wie er selbst feststellt, sind die vermeintliche "Gegenwelt" und die Welt der Konzerne untrennbar miteinander verknüpft. Es ist nicht nur so, dass Konzerne uneigennützig Ressourcen für freie Softwareprojekte bereitstellen. Sogar ein "Internetgigant" wie Meta könnte ohne freie Software und das Programmierer-Ethos des möglichst unkomplizierten Informationsaustauschs nicht so schnell wachsen - und auch Meta trägt seinerseits zum Pool freier Software bei.
Doch dieses System, das jahrelang für dynamisches Wachstum gesorgt hat, kriselt. Die Kreativität bei Google, das seinen Entwicklern immer auch Zeit für selbst gewählte Nebenprojekte gelassen hat, scheint Börsenlogik und Controllern zum Opfer gefallen zu sein. Auch Apple wirft nur noch im jährlichen Rhythmus minimal modifizierte Versionen seiner immer gleichen Produkte auf den Markt; doch selbst die damit erwirtschafteten Rekordgewinne scheinen den Investoren nicht mehr zu genügen. Das in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts aufgebaute Potential an staatlicher Grundlagenforschung und von kreativen Freiräumen in Konzernen, aus denen Konzepte wie datenpaketvermittelte Kommunikation oder grafische Benutzeroberflächen erst entstehen konnten, scheint aufgebraucht zu sein. Die heute typischen kurzatmigen Hypes und Flops wie das Metaverse, Kryptowährungen, NFTs oder Elon Musks konzept- und hilfloses Agieren beim Versuch, den Kurznachrichtendienst Twitter in einen Bezahldienst nach chinesischem Vorbild umzubauen, sind typische Ergebnisse der aktuellen Risikokapitalgebermentalität: lieber eine schlechte Idee, die das Potential hat, sehr schnell sehr viel Geld zu bringen, als eine, die ein real existierendes Bedürfnis erfüllt, aber vielleicht mehr Zeit braucht, um sich durchzusetzen.
Zweitens steht der Begriff der "digitalen Gegenwelt" quer zu den historischen Tatsachen. Denn das Internet selbst ist aus staatlichen und akademischen Initiativen, Bastelei und Selbstorganisationsversuchen talentierter Individuen hervorgegangen, die deshalb Erfolg hatten, weil Entscheider in Staat, Universitäten und Unternehmen dafür großzügig Freiraum gaben. Projekte wie Mozilla, das Fediverse oder Linux sind keine "Gegenwelt", sie sind das Internet. Nur wenn es dem freien Netz gut geht, wird auch E-Commerce weiter funktionieren können. Amazon oder Facebook könnten auch in einem beliebigen kommerziellen Computernetzwerk wie weiland Compuserve oder AOL stattfinden. Sie und die Investoren der "Paypal-Mafia" um Elon Musk und Peter Thiel sind es, die die eigentliche Parallelwelt bilden. Meys Recherchen zeigen das durchaus, aber die Einsicht muss hinter der Darstellung eines Konflikts zwischen diversen nichtkommerziellen Projekten und den "Tech-Giganten" zurücktreten. Der wahre Kampf findet vielleicht nicht zwischen Internethippies und Großkonzernen statt, sondern zwischen nachhaltigen und überaus kurzfristigen Formen der Projektfinanzierung. GÜNTER HACK
Stefan Mey: "Der Kampf um das Internet". Wie Wikipedia, Mastodon und Co. die Tech-Giganten herausfordern.
C. H. Beck Verlag, München 2023.
236 S., br.
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