Besprechung vom 05.02.2024
Panikattacken an der Hasenbergsteige
Uta-Maria Heim jagt eine Stuttgarter Psychotherapeutin durch den Fragezeichenwald ihrer Vergangenheit
Uta-Maria Heim ist eine erfahrene Fährtenlegerin, und schon 1991 hat sie in ihrem Krimidebüt "Das Rattenprinzip" Stuttgart als Schauplatz gewählt. Später ist sie immer wieder dorthin zurückgekehrt. So auch jetzt. Nachdem zuletzt ihr Pfarrer Fischer in der Toskana ermittelte, geht es nun in den Stuttgarter Westen, in den Schwarzwald (wo die Autorin geboren wurde), nach Worpswede und an die französische Atlantikküste: "Tanz oder stirb" nimmt die weithin berühmte Ballettszene ins Visier, um sie wieder aus den Augen zu verlieren, denn, wie bei Heim gewohnt, kommen Abstecher in Zeit- und Kulturgeschichte dazwischen.
Dieses Knäuel zu entwirren ist herausfordernd. Doch nichts würde die Autorin weniger wollen, als einen landläufigen Whodunit zu schreiben, auch wenn sie sich auf dem Gelände des Regionalkrimis bewegt, auf dem Heim eine Ausnahmeerscheinung ist.
Nuria Haas ist niedergelassene Psychologin, Kognitive Verhaltenstherapie und Traumatherapie sind ihre Spezialgebiete. Abstammung und Herkunft der Mittvierzigerin sind ungewiss, sie war ein Findelkind, das nur ein Namensbändchen am Handgelenk trug. Der Name, so lesen wir, bedeutet die "Lichttragende". Nurias Geburtstag wurde festgelegt auf den Todestag der Callas, gefunden wurde sie an dem Herbsttag des Jahres 1977, an dem der von der RAF ermordete Hanns-Martin Schleyer zu Grabe getragen wurde.
Der Adoptivvater verließ Frau und Kind, um eine Neunzehnjährige zu heiraten, zwei Jahre später ist er tot. Da ist Nuria neun Jahre, und die Mutter, die so gut nach Bügelstärke riecht, kommt bei einem Unfall um Leben. Diese Bilder verfolgen Nuria bis in die Gegenwart. Mit ihnen beginnen die Panikattacken, und aus dem ohnehin unsicheren Kind wird eines, das keinen Halt mehr in der Welt zu haben glaubt und mit Gewalt auf dieses Gefühl reagiert. Studium in Tübingen, eine gescheiterte Beziehung, aus der eine Tochter hervorging: Die dreizehnjährige Rosalie pendelt zwischen Mutter und Vater in Freiburg, sie hat das Asperger-Syndrom und pubertiert massiv.
Dass Nuria selbst auf einer Ballettschule gewesen sein muss, legt ein Trauma nahe, das sie mitschleppt und das wieder hochkocht, als eine zwanzigjährige Elevin der Nurejew-Schule Nurias therapeutische Hilfe sucht, weil sie nach einem Sturz Angst hat, erneut zu fallen. Verbirgt sich dahinter Missbrauch? Die Wiederbegegnung mit dieser Welt der strengen körperlichen und seelischen Zurichtung evoziert jedenfalls in Nuria vertraute Bilder aus ihrer Zeit im Mädchenheim. Dort wurden mittlerweile Kinderskelette gefunden, jetzt steht das Haus zum Verkauf. Waren die Barmherzigen Schwestern vielleicht doch nicht so menschenfreundlich?
Wie soll Licht in dieses vielfach verdunkelte Szenario kommen, das obendrein von historischen Exkursen in die NS-Zeit, den Deutschen Herbst und Stuttgarts Glanzzeit als Balletthauptstadt durchwirkt ist? Nuria, die an der vornehmen Hasenbergsteige eine Dachwohnung abbezahlt, durchforstet diverse Milieus, darunter jenes der Eltern ihrer Praxiskollegin Erdmute, die ihren Ruhestand in einer schwäbischen Hippiekommune auf Mallorca verbringen. Die Autorin kennt diese Stadt und ihre Bewohner inwendig, vor allem aber hat sie ein Faible für das seelische Gepäck ihrer Figuren. Das korreliert mit Nurias Faible für abweichendes Verhalten, für Menschen, die bestrebt sind, "sich den gesellschaftlichen Normen zu widersetzen".
Und das ausgerechnet im Kernland der Kehrwoche, wo man ihr bei ihren Nachforschungen die Tür weist, weil man sich an nichts erinnern will, was die Fassade der Wohlanständigkeit verkratzen könnte - mir gäbet nix, mir saget nix. Eine Ermittlerin in eigener Sache also, die von der Polizei - die Direktorin der Ballettschule wurde erschlagen, Nuria findet die Tote - vernommen wird. Die Exekutive hält sie aber offenkundig für weniger verdächtig als sie sich selbst: Hat sie jene Irina "Olga" Iwanowa auf dem Gewissen? So viele Fragen.
Es gibt in diesem Roman Passagen, in denen das Gefühl aufkommt, aus diesem Fragezeichenwald gebe es kein Entkommen. Nurias Tiefenbohrungen in ihrer löchrigen Biographie fördern wie nebenbei ein Psychogramm der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft ans Licht. Am Ende hat sie mehr potentielle Eltern, als je eine Normalsterbliche verkraften könnte. Dabei offenbart die Art und Weise, wie die Erinnerung Nuria Streiche spielt und wie ihrer Wahrheit viele Striche durch die Rechnung gemacht werden, die erzählerische Könnerschaft Uta-Maria Heims. Sie hält ihre Leser bei der Ballettstange, lässt sie in den Spiegel schauen und fordert sie dazu auf, das Bild, das sie dort sehen, zu akzeptieren. HANNES HINTERMEIER
Uta-Maria Heim: "Tanz oder stirb". Kriminalroman.
Gmeiner Verlag, Meßkirch 2023. 284 S., br.
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