Seit mit Aristoteles' Metaphysik der unabgelenkten Linie gegenüber der gekrümmten eine höherwertige Position zuerkannt wurde, gehört es zur wiederkehrenden Diffamierung des Mäanders, die Figuren der Abweichung als geschmeidig, adaptiv und opportunistisch, aber auch - in ihrem Emblem, der Schlange - als heimtückisch, chaotisch und böse zu brandmarken. Demgegenüber gilt die Gerade als Inbegriff historischer Vernunft, als übermächtige Ordnungsform, bei der die zum Disparaten neigende Welt zusammenläuft und zur Gesamtheit synthetisiert werden kann. Doch was, wenn sich der rationalistische Formalismus der Gerade in Wahrheit als grandios irrational und dysfunktional für das planetarische Leben erweist? Wenn sich die Verwandlung von verschlungenen Gebilden der Relationalität in effiziente Landschaften mit stringenten Planungsabläufen als Voraussetzung heutiger Katastrophen offenbart? Könnten sich uns, so fragt Volker Demuth in seinem zwischen Analytik und Geschichte, Reflexion und Erzählen pendelnden Essay, mit dem Mäander nicht Einsichten bieten in eine radikal andere kulturelle und politische Ökologie, in eine Grammatik, bei der Subjekte und Objekte nicht hierarchisiert werden? Kein Punkt an der Spitze einer imaginären Pyramide also, vielmehr ein hin und her schwingendes Beziehungsgeflecht in einem fluiden Raum.