
»Ein großartiger Roman, in dem man Spiegelungen berühmter Vorbilder ebenso wahrnimmt wie eine ureigene Weltsicht: (. . .) Vor allem aber vollbringt er das Meisterstück literarischer Alchemie: die Vorbilder in einer komplexen, mitreißenden Erzählung zu verschmelzen, die alle Register zieht. «
Niklas Bender / Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Eine wunderbare Versuchung für den Leser, der er unbedingt nachgeben sollte. «
Niklas Bender / Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Melchiorre schuf einen Schmöker mit Sogwirkung, in den man seitenweise abtauchen kann. Und auch wenn er zuna chst aus der Zeit gefallen zu sein scheint, so wird doch die Gegenwart verhandelt. «
Roberta De Righi / Abendzeitung München
»Ein beeindruckender Schmöker [ ] In seiner Langsamkeit und seiner Präzision entwickelt das Buch eine ungeheure Faszination und Sogwirkung. «
Susanne Gurschler / innsbruck. info
»Als gelungener Beitrag des Buchmessen-Ehrengasts empfohlen. «
Rouven Hans / EKZ Bibliotheksservice
»Melchiorre verfügt über eine raffinierte und wunderbar wirkungsvolle Erzähltechnik (. . .) Wir stehen vor einem Meisterwerk. «
Alberto Manguel / La Repubblica
»Der Hauptschauplatz ist der Wald, fast ein dantesker Wald, der trotz des menschlichen Elends, das er zu verhöhnen scheint, immer weiter atmet. «
Marco Balzano
»Eine faszinierende Sprache, die uns gefangen nimmt wie dieser Wald, der um einen herum wächst, ohne dass man es merkt. «
Paolo Cognetti
Besprechung vom 10.10.2025
Holzdiebstahl? Nicht an meinem blauen Blut!
Der Fürst als wutbürgerlicher Apfel an einem toten Ast: Matteo Melchiorres großartiger Debütroman
Der Bücherherbst des letzten Jahres war Italien als Gastland der Frankfurter Buchmesse gewidmet. Einer der Höhepunkte dieser Literatur, Matteo Melchiorres Debüt ,"Der letzte Cimamonte", wurde allerdings in Deutschland kaum besprochen. Dabei ist es ein großartiger Roman, in dem man Spiegelungen berühmter Vorbilder ebenso wahrnimmt wie eine ureigene Weltsicht: Wie Giovanni Verga zeigt er die unbarmherzigen Gesetze des Landlebens; wie Giuseppe Tomasi di Lampedusa und Andrea Giovene erforscht er über eine dekadente Adelsfamilie den Gang der Welt; wie Italo Svevo seziert er ein tragikomisch-inkompetentes Bewusstsein. Vor allem aber vollbringt er das Meisterstück literarischer Alchemie: die Vorbilder in einer komplexen, mitreißenden Erzählung zu verschmelzen, die alle Register zieht.
"Der letzte Cimamonte", für die Dorfbewohner schlicht "il Duca" (der Herzog), ist ein Mann Mitte dreißig, der nach dem Tod seiner Eltern das Familienpalais in der Stadt verkauft hat. Seit zehn Jahren wohnt er in Vallorgàna, einem 150-Seelen-Weiler am Fuß der Berge, wo der Stammsitz der Cimamonte steht, eine über 800 Jahre alte Villa. Im 20. Jahrhundert allerdings hat die Sippe sich dort selten sehen lassen und ist fast vergessen. Der junge Mann selbst weiß zwar genau, dass er ein Graf und kein Herzog ist, meint aber, mit Adel und Familie abgeschlossen zu haben. Er irrt: Der "perfekte Zustand", in dem er lebt, nimmt ein Ende, als der Waldarbeiter Nelso Tabióna ihm berichtet, dass Mario Fastréda Bäume in einem gräflichen Waldstück gefällt hat, sechshundert Doppelzentner Holz.
Der erste Teil des Romans steht im Zeichen des Hasses: Der gelehrte Adelsspross, studierter Paläograph, lässt sich in einen regelrechten Krieg mit dem Viehzüchter Fastréda verwickeln. Letzterer ist die Eminenz des Dorfes und kann auf treue Gefolgsleute zurückgreifen. Seinem Alter zum Trotz legt er Energie und Geschick an den Tag: "Er dachte wie die Bauern vor hundert Jahren, traute niemandem, gab in der Öffentlichkeit nur die allgemein vertretene Meinung zum Besten und kultivierte jenes wortkarge, einfache Wesen, das sich gut eignet, in jeder Angelegenheit ungestört und nach eigener Willkür zu agieren."
Der Duca hingegen agiert wie ein Tollpatsch: Er lässt sich aus der Ruhe bringen und als arroganter Städter diffamieren. Es sieht so aus, als lieferten sich ein adeliger Müßiggänger und ein bäuerlicher Aufsteiger ein Duell - genau die Situation, von der man dem Duca abgeraten hatte: "'Pfeifen Sie darauf', beschied der Anwalt, nachdem mein Ausbruch zu Ende war. 'Sie sind ein Gentleman, und ebendeshalb, wenn Sie erlauben, sollten Sie andere Wege einschlagen.'" Das gelingt ihm nicht, atavistisch regt sich sein blaues Blut, "etwas, das in mir fließt und in letzter Zeit ohne mein Zutun brodelt und brennt wie nie zuvor". Die Animositäten gehen bis zur Brandstiftung.
Zwei Ereignisse verschieben die Gesamtlage. Erstens schenkt ein Freund dem Duca die "Chronica Cimamontium ab anno 1495", eine Familienchronik der Jahre 1495 bis 1720. Besonders das Leben des Ahnherrn Giuseppe fasziniert ihn, ein brutaler Missetäter, der 1720 von den Häschern einer feindlichen Familie an der Schlucht des Bus del Caorón, dem Loch des Dämons, ermordet wird; die Faszination steigert sich noch, als der Duca in einer Mauer einen Kelch mit Haaren, Knochen und einem Teufelspakt Giuseppes findet. Die Geschichte wirft Bedenken auf, das eigene Blut betreffend, "wobei ich mit Blut sowohl das rote, dickflüssige Blut der Venen meinte als auch das kulturelle Serum, das als anderes, immaterielles Destillat von Generation zu Generation durchsickert, von Jahrhundert zu Jahrhundert."
Zweitens taucht unversehens eine junge Restauratorin auf, die sich für die Villa und ihren Bewohner interessiert. Maria geht dem Duca angenehm auf die Nerven: "Es war ein Reiz von ausgesprochen physischer Natur, ganz auf den Körper bezogen: der Körper vor allem anderen, der Körper mit allem, was er eingab und erahnen ließ. Und dieser Duft im Wald war zweifellos der ihre gewesen, Marias." Sie hilft ihm, ein Fresko freizulegen - und entpuppt sich als Fastrédas Enkelin. Die Liebelei erschüttert den Viehzüchter, er bekommt Angst, verhält sich zunehmend seltsam, bis er eines Tages tot aufgefunden wird, ausgerechnet am Bus del Caorón. Was verbindet Fastréda mit den Cimamontes? Als der Duca in den Unterlagen des Verstorbenen eine Abschrift der Familienchronik findet, ein Geschenk seines eigenen Großvaters, beginnt man, es zu ahnen.
Dieser Teil des Romans inszeniert eine detektivische Recherchearbeit, bis die Teile ein überraschendes Bild ergeben; es folgen ein verheerender Sturm und am Ende eine große Entscheidung. Der 1981 geborene Melchiorre, der studierter Mittelalterhistoriker ist, meistert den Krimi mit Schauerelementen genauso wie den Bewusstseins- oder den Katastrophenroman, er erfindet historische Berichte und Inschriften mit derselben Lockerheit, wie er literarische Motive aufnimmt. Ein Beispiel wäre jene Krähe mit den weißen Flügeln, die den Duca zu Anfang und Ende des Romans aufsucht; Vorbilder wie das Elsterngleichnis aus Wolfram von Eschenbachs "Parzival" klingen an.
Scheinbar nebenbei schildert Melchiorre ein abgelegenes Dorf, porträtiert eine Sammlung origineller Charaktere, Nelso vorneweg, arbeitet die feudale Sozialstruktur heraus. Nicht nur hier spielt der Autor virtuos auf der Klaviatur historischer Zeitschichten. Aus Lampedusas "Leopard" stammt das Bewusstsein für geschichtlichen Wandel und Niedergang - der jedoch überraschend ausgehebelt wird. Der in den Jahrhunderten verwurzelte Adelige zeigt sich als zeitgemäßer Wutbürger, und auch sein Rivale hat die Rolle des sozialen Feindes nur gespielt, wie sich herausstellt. Der umstrittene Wald endlich, in dem die Dorfbewohner leben, arbeiten, sich erholen, verlieren oder sterben, den sie lieben, bekämpfen und am Ende betrauern, ist mehr als ein Rahmen: Er ist eine Gestalt, an der sich die Konsequenzen und das Ende der menschengemachten Geschichte gleichermaßen abzeichnen.
Immer wieder werden Bäume eindrücklich geschildert, und am Ende liegt der Übergang ins Bildliche dank Adelsgenealogie auf der Hand: "Ich fühlte mich wie ein mitten im Januar gereifter Apfel, während alles um mich her keine Saison mehr hatte; der einzige Apfel, am Ast eines jahrhundertealten Baumes, dessen Lebenssäfte vollkommen versiegt sind. Der Baum ist tot, doch der Apfel bleibt hängen, als Herr über ein Skelett." Im Baum fließen Einzelleben und Epochenfresko, Geschichte und Natur ineinander. Der Duca ist eine Frucht mit Samen - und eine wunderbare Versuchung für den Leser, der er unbedingt nachgeben sollte. NIKLAS BENDER
Matteo Melchiorre: "Der letzte Cimamonte". Roman.
Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. Atlantis, Zürich 2024. 494 S., geb.
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