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Besprechung vom 18.11.2022
Prüfend schweift der Blick über das Plenum
Der politische Raum repräsentativer Demokratie ganz konkret: Christoph Schönberger erläutert kenntnisreich und unterhaltsam Architektur und Praxis deutscher Parlamente.
Dass die Wissenschaft sich jedes Mal ganz in jedem einzelnen Behandelten erweisen solle - diese Maxime löst Christoph Schönberger in seinem neuen Buch in der Behandlung eines einzigen politischen Möbelstücks, der Regierungsbank des Bundestages, ausgesprochen informativ wie auch gut lesbar ein. Es ist aber ein grandioses Understatement, hier ginge es nur um die siebenunddreißig blau gepolsterten Sitze zur rechten Hand des Bundestagspräsidiums (plus die sechsunddreißig Sitze der Bundesratsbank linker Hand). Leser des Buchs lernen nicht nur etwas über Parlamentsarchitektur und Parlamentspraxis in Reichs- und Bundestag sowie den deutschen Landtagen, sondern etwa auch etwas über die historische Genese von Parlamentsarchitekturen in England, Amerika und Frankreich, samt kurzen Ausflügen nach Japan oder in den italienischen Palazzo di Montecitorio, wobei - wie man es bei diesem Autor erwarten durfte - der französische Fall besonders reich auch aus zeitgenössischen Quellen entwickelt und beleuchtet wird.
Es geht zudem um parlamentarische Rededuelle, Sitzordnungen, Sprechen vom Platz und vom Rostrum, um die Frage, wer durch welchen Eingang in das Parlament einzieht, um die Symbolik von Stuhllehnen und Baldachinen, um Thronsessel und das Entstehen der Codierung des politischen Raums nach "rechts" und "links", um das politische Sitzen und Stehen und Reden und Applaudieren, und um vieles, vieles mehr. Dass hier auch immer spezifische Vorstellungen von Demokratie sinnbildlich werden und sich deswegen an den zeitgenössisch sehr differenzierten Auseinandersetzungen über die parlamentarische Form unterschiedliche Konzeptionen von repräsentativer Demokratie ablesen lassen, darin ist dem Autor zuzustimmen. So wie auch darin, dass alles das nicht in einem Funktionalismus von Akustik und Sichtbarkeit oder gedankenlosem Kopieren von Formen aufgeht, sondern es sich um eine eigenständige symbolische Dimension handelt, dadurch aber auch um eine eigene, sozusagen architektonische Ideengeschichte der Demokratie.
Bei all der quellengesättigt, nichtsdestotrotz unterhaltsam präsentierten Informationsfülle wird man dem Autor trotzdem nicht in jeder Ordnung und Wertung seines Materials folgen wollen. Dass für ihn das italienische oder das französische Parlament ein Ideal darstellen, bei denen die Regierung entweder zwischen Plenum und Rednertribüne auf gesonderten Bänken (Italien) oder in den vorderen Plenarreihen ihren Platz hat (Frankreich), weil bei einer solchen Anordnung die Redner ihre Regierungskritik direkt, vis-à-vis, adressieren können, was den ganzen parlamentarischen Austausch viel lebhafter gestalte, ist zum Beispiel ein Argument, das nur auf den ersten Blick zu überzeugen vermag. Bekanntlich geht die Rolle des Parlaments in der repräsentativen Demokratie nicht darin auf, die Regierung zu kritisieren - eine Mehrheit der Abgeordneten tut dies gerade nicht, sondern trägt sie. Man hat den Eindruck, Schönbergers Parlamentsideal zeigt sich hier durch eben jene spätkonstitutionalistische Vorstellungswelt geprägt, deren Unzulänglichkeit er dauernd beklagt - ganz abgesehen davon, dass nun Frankreich oder Italien gewiss nicht als parlamentarische Modelle taugen.
Im Deutschen Bundestag und den ihm verwandten Parlamenten etabliert sich hingegen eine eigenständige politische Raumordnung, die man demokratietheoretisch auch ganz anders würdigen könnte, als es der Autor tut. In ihm adressieren die Redner das Plenum, quasi als stellvertretende Mini-Öffentlichkeit, und die Regierung kann dessen Reaktionen studieren, also die Überzeugungskraft der eigenen Position im parlamentarischen Für und Wider ermessen, die Geschlossenheit der eigenen Mehrheit abschätzen wie auch die Wirkungstreffer der Opposition beobachten. Das ist eine demokratische Triangulation eigener Art, doch folgte man dem Autor, wäre sie bloß als Ausdruck einer "obrigkeitsstaatlichen Prägung", eines interaktionsarmen Parlamentarismus und als Belastung der Demokratie zu werten.
In der Assemblée nationale, wie etwa auch im ungarischen Parlament, hat die Regierung stattdessen Freund und Feind im Rücken, ohne je deren Reaktionen mehr als nur hören zu können. Der These, dass in der Regierungsbank der Thron parlamentarisch fortlebe - der, nebenbei bemerkt, vom Autor spät und betont beiläufig zitierte Beiträge argumentativ vorgearbeitet haben -, entgeht auch, dass sich im Bundestag auf der Regierungsbank und der links vom Bundestagspräsidium angeordneten Bundesratsbank doch häufig nur die Bürokratien wechselseitig beäugen. Wenn die Besoldungsgruppe B9 oder niedriger Platz nimmt, wird man das nicht unbedingt als Ausdruck eines Fortlebens monarchischer Traditionen werten müssen; vielleicht eher als genuinen Ausdruck des deutschen Exekutivföderalismus?
Überhaupt zeigt sich der Autor mal großzügig und relativiert die im Falle des britischen Parlaments im Palace of Westminster ja nun wirklich nicht zu übersehende "prägende monarchische und aristokratische Symbolik" mit Verweis auf "die reale politische Macht", folgt dann aber in der Bewertung des deutschen Falls nahezu einem architektonischen Determinismus, als ob man aus einem Plenarsaal direkt eine Parlamentskultur ableiten könne. Die in der Literatur wohletablierte Unterscheidung zwischen Rede- und Arbeitsparlamenten, die im vorliegenden Buch nicht systematisch adressiert ist, hat viel mit der internen Verfasstheit von Parteien zu tun, und damit mit dem Wahlrecht, aber vergleichsweise wenig mit der Gestaltung von Plenarsälen. Diese basale Unterscheidung wird man daher auch nicht durch ein anderes parlamentarisches Raumarrangement überspringen können.
Von solchen Kritikpunkten unbenommen, wird dieses Buch auch von allen jenen mit Genuss und Gewinn gelesen werden können, die mit dem Thema Plenarsaal, Parlamentsarchitektur und parlamentarischer Praxis bereits vertraut sind - von allen anderen sowieso. PHILIP MANOW
Christoph Schönberger: "Auf der Bank". Die Inszenierung der Regierung im Staatstheater des Parlaments.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 282 S., Abb., geb.
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