Die 1970er Jahre wurden von einer gigantischen »Regierbarkeitskrise« erschüttert: Die Wirtschaftswelt hatte mit massiver Disziplinlosigkeit der Arbeiter zu kämpfen, aber auch mit der so genannten »Managerrevolution«, mit bisher beispiellosen ökologischen Massenbewegungen und neuen Sozial- und Umweltvorschriften. Politisch geäußerte Ansprüche immer zahlreicher werdender sozialer Gruppen drohten in den Augen der herrschenden Eliten aus Wirtschaft und Politik die Gesellschaft unregierbar zu machen. Der französische Philosoph Grégoire Chamayou porträtiert in seinem faszinierenden Buch dieses Krisenjahrzehnt als den Geburtsort unserer Gegenwart - als Brutstätte eines autoritären Liberalismus.
Zur Abwehr der Bedrohung wurden in wirtschaftsnahen Kreisen neue Regierungskünste ersonnen, die beispielsweise einen Krieg gegen die Gewerkschaften, den Primat des Shareholder Value sowie eine Entthronung der Politik vorsahen. Der damit seinen Siegeszug antretende Neoliberalismus war jedoch nicht durch eine einfache »Staatsphobie« bestimmt. Die Strategie zur Überwindung der Regierbarkeitskrise bestand vielmehr in einem autoritären Liberalismus, bei dem die Liberalisierung der Gesellschaft eine Vertikalisierung der Macht impliziert: Ein »starker Staat« für eine »freie Wirtschaft« wird zur neuen Zauberformel unserer kapitalistischen Gesellschaften.
Besprechung vom 15.12.2019
Die Gegenrevolution: Wie der autoritäre Liberalismus der siebziger Jahre uns besiegte, zeigt der französische Philosoph Grégoire Chamayou in seinem Buch "Die unregierbare Gesellschaft"
Massenbeschäftigung sei keine politisch tragfähige Option, schrieb zu Beginn der siebziger Jahre ein amerikanischer Wirtschaftskolumnist. Und fügte hinzu: "Was dieses Land braucht, um diese Bande von Taugenichtsen zur Räson zu bringen, ist eine ordentliche Depression." Die "Taugenichtse", das waren die amerikanischen Arbeiter, und die Situation war dadurch gekennzeichnet, dass auf dem Arbeitsmarkt nahezu Vollbeschäftigung herrschte. So offen allerdings konnte der Kolumnist nur sprechen, weil er nicht unter seinem Klarnamen schrieb. Er nannte sich Adam Smith, nach dem Begründer der klassischen Nationalökonomie, hatte aber ein etwas anderes Anliegen. Während es dem ersten Adam Smith um den "Wohlstand der Nationen" gegangen war, sang der zweite Smith ein anderes Lied. In seinem 1972 unter dem Titel "Supermoney" erschienenen Buch ging es vor allem darum, dass es den Leuten zu gut ging.
Er musste feststellen, dass die "allgemeine Opferbereitschaft" sich auflöste. Von Verzicht sei keine Rede mehr. Der zweite Smith bediente sich dabei noch eines relativ leicht zu durchschauenden rhetorischen Tricks. Er tat so, als spräche er über alle, er meinte aber nur die abhängig Beschäftigten. Die nämlich hatte der Wohlfahrtsstaat in einen disziplinlosen Haufen verwandelt, der nichts anderes zu tun hatte, als die notwendige Autorität von kleinen und großen Chefs in allen möglichen Unternehmen zu untergraben, um womöglich diese Betriebe auch noch in Selbstverwaltung zu übernehmen. Und dagegen, so Smith, helfe nur eine ökonomische Krise, die man, wenn sie der naturwüchsige Verlauf des Kapitalismus nicht liefere, auch künstlich herbeiführen könne. Das hatte die Regierung von Präsident Richard Nixon zwischen 1969 und 1970 auch schon getan, indem sie eine kurze Rezession provozierte, um die Wirtschaft abzukühlen, wie es hieß. Der zweite Smith plädierte nun in seinen Kolumnen für mehr von dieser Politik, um den Beschäftigten wieder den nötigen Gehorsam in den Betrieben beizubringen.
Der 1976 geborene und in Lyon am "Centre national de la recherche scientifique" (CNRS) arbeitende Philosoph Grégoire Chamayou nimmt diese Situation zu Beginn der siebziger Jahre als Ausgangspunkt für sein Buch "Die unregierbare Gesellschaft", das im Untertitel "eine Genealogie des autoritären Liberalismus" ankündigt. Chamayou, der durch seine Pionierarbeit zur "Theorie der Drohne" international bekannt geworden ist, geht es nicht um eine neue Ideengeschichte des Liberalismus. Die Krisensituation von damals ist Anlass, eine "Geschichte von oben" zu schreiben. Eine Geschichte, die Wahrnehmungen und Texte derer ernst nimmt, die sich bemühten, die Interessen der "Wirtschaft" zu verteidigen. Und die Interessen der Wirtschaft sahen deren Verteidiger vor allem durch die breiten Demokratisierungstendenzen in den entwickelten westlichen Ländern in Gefahr. Die "private Regierung" in den Unternehmen schien kurz davor, ihre Autonomie im Trubel immer neuer Forderungen der Regierten, der Arbeiter, zu verlieren, was die freie Marktwirtschaft in ihrem Kern gefährdete.
Es ist hilfreich, das ebenfalls in diesem Jahr auf Deutsch erschienene Buch "Private Regierung" der amerikanischen Philosophin Elizabeth Anderson parallel zu Chamayous Untersuchung zu lesen. Anderson macht in ihrem Untertitel - "Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)" - die Sprachlosigkeit der abhängig Beschäftigten zum Thema; Chamayou zeigt sehr klar, dass die Krise den Vertretern und Verteidigern der Wirtschaft nicht die Sprache verschlagen hatte. Die Freunde der Wirtschaft, seien es Ökonomen, Psychologen, Juristen oder Politiker, scheuten keine Mühen, bis ins Detail ausgearbeitete Theorien und Handlungsanweisungen zu entwerfen, die die Unregierbarkeit in die richtigen Bahnen lenken sollten, und zwar in eine Unregierbarkeit der Gesellschaft, die gleichzeitig jedoch die private Regierung in den Unternehmen unangetastet durch Arbeitermitbestimmung ließ und den Staat vor allem als starken Schutz dieser privaten Regierung betrachtete.
Während Michel Foucault die Frage nach der Unregierbarkeit in den Institutionen aufwarf und Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem 1972 erschienenen "Anti-Ödipus" die Frage stellten, warum Menschen für ihre Knechtschaft kämpfen, als ginge es um ihr Heil, behandelten die neoliberalen Theoretiker und Politiker genau die gleichen Themen. Nur taten es die "neoliberalen Mikropolitiker", wie Chamayou sie nennt, mit umgekehrten Vorzeichen und gegensätzlichen Zielen. Sie fragten nicht, warum, "sondern wie dafür sorgen, dass die Menschen für ihre Knechtschaft kämpfen, als ginge es um ihr Heil?".
Die Neoliberalen wollten in ihrer ersten Kampfzeit mehr als nur die Durchsetzung ihrer Doktrinen im staatlich-rechtlichen Rahmen. Es ging ihnen darum, "die Arten der Selbststeuerung und des Umgangs mit anderen zu verändern", schreibt Chamayou. Und sie waren erfolgreich. Für Chamayou hat der Neoliberalismus seine Erfolge weniger als Ideologie denn als politische Technologie errungen. Er beschreibt den Neoliberalismus mit einem Begriff des heute vergessenen Anthropologen Arsène Dumont als eine "politische Ethonomie". Dumont unterschied zwischen der Ethographie, der bloßen Beschreibung der Sitten, und der Ethonomie als der Kunst, dafür zu sorgen, dass die Sitten sind, wie sie sein sollen.
Es ist einer der Höhepunkte von Chamayous Studie, wenn er zeigt, wie der Begriff der Mikropolitik, den Foucault, Deleuze und Guattari als subversiv verstanden, parallel von einer Gruppe von Neoliberalen entworfen und mit einem ganz ähnlichen Verhaltensprogramm versehen wurde. Wortführer war der britische Neoliberale Madsen Pirie, dessen Hauptwerk "Den Staat abbauen: Theorie und Praxis der Privatisierung" (1985) auf dem Umschlag eine Riesenhand zeigte, die gerade dabei war, mit einem Brecheisen die Kuppel des Kongresses in Washington aufzuhebeln. Pirie, der Anführer der "Saint-Andrews-Gruppe", wie man die jungen Neoliberalen nach der Universität, an der sie gelernt hatten, nannte, hatte mit seinem Buch und den darin angebotenen Strategien riesigen Erfolg. "Wir wussten", erinnerte er sich später, "dass wir dabei waren, eine Revolution zu machen." Das habe Ende der sechziger Jahre in der Luft gelegen. Nur dass sie anstelle der Gegner, deren Götter Marx, Marcuse und Che Guevara waren, Friedrich Hayek, Karl Popper und Milton Friedman als ihre Götter gehabt hätten. Das sei eigentlich alles gewesen, abgesehen davon, "dass wir gewonnen haben".
Pirie hatte aber, und daran ließ er keinen Zweifel, von Che und Lenin gelernt, dass die Tat der Theorie vorausging. Und was er bot, war eine detaillierte Strategie der "Übertragung von Regierungsfunktionen auf den Privatsektor", die gegenüber den harten Brüchen der alten Neoliberalen mit dem Wohlfahrtsstaat den Vorteil hatte, die staatlichen Dienstleistungen nicht sofort abzuschaffen. Wollte man etwa den Bildungs- oder Gesundheitssektor privatisieren, musste es zuerst darum gehen, einzelne Leistungen auf private Träger zu übertragen und weiter staatlich zu finanzieren. In einem zweiten Schritt ging es darum, jene anzusprechen, die in diesem System doppelt zahlten: die Steuern, mit denen die staatlichen Schulen ausgestattet wurden, und zugleich die Gebühren für die Privatschulen ihrer Kinder. Solchen Leuten musste man dann die Parole "Schluss mit den öffentlichen Monopolen, damit der Wettbewerb gedeihen kann", nicht mehr einhämmern. Sie waren darauf vorbereitet, die Entscheidungen für die Liberalisierung des Busverkehrs und die dann folgende Privatisierung der britischen Eisenbahnen zu begrüßen.
Pirie hatte ein sehr ausgefeiltes Programm anzubieten, das man mit Deleuze und Guattari als Mikro-Engineering der rationalen Wahl bezeichnen kann. Und Pirie wusste genau, wie seine Vorschläge wirken sollten. Die individuellen Mikropräferenzen würden unabsichtlich dazu beitragen, Schritt für Schritt eine gesellschaftliche Ordnung entstehen zu lassen, die die meisten Leute mit Sicherheit nicht gewählt hätten, wenn sie ihnen im Ganzen präsentiert worden wäre.
Die Saint-Andrews-Gruppe hatte nicht nur eine Vorstellung davon, wie man ein steigendes Anspruchsniveau, das in jedem Wohlfahrtssystem strukturell vorhanden ist, eindämmt; sie wusste auch um die Disziplinierungschancen ihrer Mikropolitik der Privatisierung. Denn wenn man einen Dienst aus der politischen Welt entfernt, um ihn in der ökonomischen Sphäre anzusiedeln, verändert man nicht nur die Eigentumsform, sondern auch die Regierungsweise. Solange ein Dienst von der Logik der Politik bestimmt wird, ist es immer schwierig, seine Kosten zu kontrollieren und seine Dimensionen zu begrenzen. Im Privatsektor wäre dieser Dienst automatisch den Zwängen des Marktes unterworfen. Was Regierungen nur über harte Maßnahmen, die auch schnell als Bevormundung empfunden werden, bewusst herbeiführen können, erzwingen die Konkurrenzmechanismen auf mechanische Weise und ohne Rechtfertigungsdruck.
Privatisierung im Sinne Piries ist also keine Deregulierung, sondern eine "Re-Regulierung" durch das Wirtschaftsgeschehen am Markt, die jeder von Menschen gesetzlich angeordneten Regulierung überlegen ist. Das Unheimliche an Chamayous Buch ist, dass man nach der Lektüre sehr gut an sich selbst überprüfen kann, wieweit das soziale Mikro-Engineering der Wahl einen schon selbst im Griff hat. Chamayou weiß das - und empfiehlt deshalb in aller Bescheidenheit, sich des Themas der Selbstverwaltung wieder anzunehmen.
CORD RIECHELMANN
Grégoire Chamayou: "Die unregierbare Gesellschaft - Eine Genealogie des autoritären Liberalismus". Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Suhrkamp, 496 Seiten
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.