Besprechung vom 28.05.2020
Die Glocke in Vaters Kopf
Ein Erbe, das man gern ausschlagen würde: Ivana Sajkos "Familienroman" erzählt von fünfzig kroatischen Jahren
Drei Minuten, so lange brauchte die Save, um am 26. Oktober 1964 mit einem erheblichen Teil der Stadt auch das einstöckige Haus im Arbeiterviertel von Zagreb zu überfluten. Die Frau, die darin sitzt, Bonbons lutschend "in vollständiger Dunkelheit", lauscht auf das dumpfe Pochen der Wellen an ihrer Tür. Aber das Wasser kommt auch durch die Kanalisation, es sprengt die Gullydeckel und ergießt sich in die Waschbecken, es spült Fäkalien durch die Toiletten und verwüstet abrupt, was zuvor in langen Jahren als persönliches Refugium hergerichtet worden war. Die Frau aber ist zu keiner Gegenwehr in der Lage. Sie wartet, bis ihr Mann nach Hause kommt. Dann lügen sie sich gegenseitig weiter vor, dass es ihnen gutgehe, jedem einzeln und wahrscheinlich auch zusammen.
Ivana Sajkos "Familienroman" ist ein Porträt von drei bis vier Generationen ebenso wie eine Erzählung aus der kroatischen Geschichte, bevor, während und nachdem Kroatien ein Teil Jugoslawiens war. Es ist ein Roman in Schlaglichtern, immer wieder unterbrochen durch hineinmontierte "Dokumente, Kommentare, Erinnerungen und Sätze, die miteinander in Konflikt stehen", wie die Erzählerin in einer Vorrede schreibt, und dass sie, was die Handlung angeht, auf Diskontinuität abzielt, teilt sich sofort mit. Das geht so weit, dass manche Figuren zwar intensiv und aus der Nähe betrachtet werden, aber namenlos bleiben, und auch die Chronologie gibt bisweilen ein diffuses Bild ab.
Umso genauer widmet sich die Erzählung den Verstörungen zweier junger Menschen, die sich nach 1941 den kommunistischen Partisanen anschließen, die gegen den gerade neu ausgerufenen kroatischen Staat kämpfen. Sie laufen sich über den Weg, als die Frau - ausgelöst durch den urplötzlichen Anblick eines Massengrabs im Wald - einen Nervenzusammenbruch erleidet, nachts durch die Gegend irrt und von einem Wachtposten aufgegriffen wird. Sie verlieren sich bald aus den Augen und treffen sich nach dem Krieg wieder - sie ist inzwischen ohne rechte Überzeugung Lehrerin geworden, er dient Titos Staat als Geheimdienstmitarbeiter.
Auch er trägt seine Verletzungen, für die Ivana Sajko ein Bild findet, das man nicht mehr leicht vergisst. "Der Kopf darf keinen eigenen Wert haben und muss deshalb leer sein", lernt er im Widerstand, "ein leerer Kopf hat nichts zu sagen und kann sich nach niemandem umschauen. Er ist ein Dom, von dessen Turm es läutet, und so wird alles andere übertönt."
Dieses Bild der läutenden Kopfglocken, der Unterdrückung eigener Gedanken im Dienst eines Feldzugs, einer Macht, einer Ideologie, setzt die Autorin geschickt ein, um einen psychischen Zustand zu beschreiben, der sich irgendwann verselbständigt und an keine äußeren Ereignisse mehr gebunden ist. Dem Partisan hilft dies immerhin dazu, noch die schmerzhafteste Folter schweigend durchzustehen. Aber er zahlt dafür nicht nur mit immer stärker werdenden Wahnvorstellungen, die ihn im Verein mit zu viel Alkohol von Mäusen phantasieren lassen, die ihn bei lebendigem Leib auffressen. Er muss auch erleben, dass der Staat mit ihm irgendwann nichts mehr anfangen kann, gerade weil die Glocke in seinem Kopf es nicht mehr zulässt, dass er sich den wandelnden Zeitläuften anpasst. Von der wachsenden Distanz des Paares ganz abgesehen.
Dass es auch im Leben seiner Frau einmal etwas anderes gegeben hat, davon erzählt der Roman allerdings auch. Den Himmel ansehen, sich in den Wolken verlieren, die Flügel ausbreiten und davonfliegen - diese Sehnsucht teilen die Generationen dieses Romans miteinander, nur dass sie für die einen flüchtige Gegenwart, für die anderen längst begrabene Vergangenheit ist. An die Stelle dieser Sehnsucht tritt für die älteren dann angesichts der Misere im Jugoslawien der Nachkriegszeit etwas, das die Erzählerin die "Ökonomie der Heiterkeit" nennt, jenen vom Staat massiv verbreiteten Optimismus in persönlichen wie gesellschaftlichen Belangen. Sie hätten damals "für das Morgen und das Übermorgen gelebt" sagt ein gewisser Goran, "die Enkel sollten glücklicher werden als die Großväter, da die Zukunft besser werden würde als die Gegenwart."
"Aber sie wurde nicht besser", wirft eine Stimme, ein Gegenüber Gorans, ein, womöglich das "Ich" des Romans oder eines von mehreren, vielleicht gar ein Chor der erwähnten Enkel - der Roman lässt das offen. Goran ficht den Einwand nicht an: "Die Tatsache, dass die Zukunft nicht besser wurde, bedeutet nicht, dass sie je aufgehört haben, sich über die Möglichkeit zu freuen und darin Trost zu finden." Man könnte gegen dieses aparte Argument einwenden, dass der Trost ja gar nicht benötigt würde, wenn all die Mühen tatsächlich zu einer "besseren Zukunft" geführt hätten, mehr noch, dass die Bedingung für die Trostwirkung gerade darin liege, dass die Zeiten so miserabel bleiben, wie sie sind. Und drittens, dass es in der Frage, wie sie denn aussieht, die bessere Zukunft, zwischen den Generationen, wie sie in diesem Roman Konturen bekommen, wohl nur schwer Einigkeit zu erzielen ist.
Tatsächlich geht es in dem Roman dann auch um Zusammenstöße, vor allem in der Spätzeit von Titos Jugoslawien, die zentrifugalen Kräfte in Teilrepubliken nehmen zu, und die Flugzeugentführung, mit der 1976 Manifeste für ein selbständiges Kroatien bekanntgemacht werden sollten, nimmt im Roman einigen Raum ein.
Auch die Tochter des traumatisierten Paares will schließlich ausbrechen, auch sie eine Luftgängerin wie früher ihre Mutter, und bald findet sich auch für sie ein junger Mann, an dessen Seite dieser Ausbruch möglich erscheint. Doch die Flucht aus dem Elternhaus endet schon ein paar Straßen weiter, und während das Mädchen ungeduldig darauf wartet, dass der junge Mann, ihr Mann, sein Versprechen wahr macht, vergehen die Jahre. Dass er gar nicht fliehen will, merkt sie allmählich, und als sie dann später die Kinder nimmt und ohne ihn gehen will, hindert er sie daran mit Gewalt.
Abgeschlossen ist hier nichts, keiner dieser Lebensläufe, schon gar nicht im Tod. Und doch erwächst dieses an Brüchen reiche Buch immer dort zu einer Einheit, wo es, in Bildern mehr als in expliziten Deutungen, vom Erbe erzählt, das die eine Generation an die andere weitergibt und das die Figuren, die diesen Roman bevölkern, oft genug wohl lieber ausgeschlagen hätten.
TILMAN SPRECKELSEN
Ivana Sajko: "Familienroman". Die Ereignisse von 1941 bis 1991 und darüber hinaus.
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer. Verlag Voland & Quist, Berlin 2020. 175 S., geb.
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