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Besprechung vom 21.03.2022
China verstehen
Was sich aus der Geschichte lernen lässt
Wo steht Peking? Während der Westen infolge des Angriffs auf die Ukraine umfangreiche Sanktionen gegen Russland auf den Weg gebracht hat, hält sich die chinesische Führung weiter zurück, laviert, versucht, sich zumindest öffentlich nicht glasklar auf eine Seite zu schlagen. Wie sich das Land in Fernost positioniert, ist natürlich wichtig - weil es wenigstens theoretisch in der Lage wäre, wirtschaftlich (und militärisch) erhebliche Hilfe zu leisten.
Bekanntlich reicht das Interesse daran, wie sich China verhält, funktioniert und weiterentwickeln wird, indes weit über den jüngst begonnenen Krieg in der Ukraine hinaus. Einerseits hat das Land in den zurückliegenden Jahrzehnten einen beispiellosen ökonomischen Aufstieg hingelegt, ist nach mancher Berechnungsmethode inzwischen die größte Volkswirtschaft der Welt, hat als einziger Staat Internetunternehmen hervorgebracht, die sich mit den amerikanischen Tech-Konzernen messen können, ist in Künstlicher Intelligenz, den Quantentechnologien oder der Genetik Weltklasse. Andererseits regiert weiterhin die Chinesische Kommistische Partei mit harter Hand, haben die Verantwortlichen ein Überwachungssystem entwickelt, das seinesgleichen sucht, und haben sich viele im Westen gehegte Hoffnungen (bislang) nicht erfüllt, dass mit wachsendem Wohlstand auch demokratische Elemente zunehmen.
Woran liegt das? Wie ist China zu dem geworden, was es heute ist? Der Historiker und Sinologe Klaus Mühlhahn hat ein überaus lesenswertes Buch geschrieben, das die Geschichte des Riesenreiches vom Beginn der Qing-Dynastie im 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart schildert, einordnet und politisch, wirtschaftlich und kulturell begreifbar macht. Mühlhahn analysiert auf verschiedenen Ebenen, anhand von konkreten Ereignissen, dem Verhältnis Chinas zu anderen Ländern, ganz wesentlich aber auch mit Blick darauf, wie sich Institutionen im weitesten Sinne herausgebildet und unter unterschiedlichen Herausforderungen bewährt haben - etwa der Beamtenapparat und dessen Auswahl oder die Struktur der regionalen und lokalen Verwaltung im Zusammenspiel mit dem Kaiser. Er erläutert eingehend, wie und wieso China im 19. Jahrhundert darunter litt, von einer einstigen technologisch-wirtschaftlichen Führungsposition merklich hinter Europa und die Vereinigten Staaten zurückgefallen zu sein, Kriege gegen Europäer und Japan verlor, besetzt wurde, wie die Führung versuchte, ihren Verfall aufzuhalten, welche Reformideen es gab, warum sie scheiterten, den Bürgerkrieg, den Aufstieg Mao Tse-tungs, die Hinwendung zur Marktwirtschaft unter Deng Xiaoping bis schließlich zum Wandel unter dem amtierenden Parteivorsitzenden Xi Jinping.
Mühlhahn klärt auf im besten Sinne über ein Land, dass uns geographisch fern ist, aufgrund seiner vielfältigen Bedeutung zugleich jedoch unmittelbar angeht. Er beschönigt und verharmlost nichts, erschließt aber gerade dadurch auch immer wieder, welche historisch begründeten Ängste sehr sicher hinter Entscheidungen stehen, die bis heute in Peking getroffen werden. Zu guter Letzt ist das Buch auch eine gelungene Warnung, die über China hinausreicht: Dass lange bewährte Strukturen veralten, benachteiligen oder zu Schwäche führen können, ist ein Phänomen, das sich natürlich nicht auf China beschränkt. ALEXANDER ARMBRUSTER
Klaus Mühlhahn: Geschichte des modernen China: Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart. C.H. Beck, München 2021, 760 Seiten
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