Sprachlich brillant, einfühlsam und dennoch manchmal sehr direkt, verpackt hier Laetitia Lenel die Geschichte von Generationen, die Sehnsüchte von Frauen und die Macht der Kunst in nicht mal 160 Seiten.
S.128: Was uns erstickt, ist das, was wir nicht tun dürfen. Nicht denken, nicht studieren, nicht reisen, nicht träumen. Nicht frei sein.
Mariannes einziger Lebenssinn schien darin zu bestehen, zu funktionieren. Als Frau. Für ihren Mann, ihre Familien, Gesellschaft, Vaterland. Sie hatte Pflichten, eigene Bedürfnisse mussten zurückgestellt werden.
Das war für sie immer schon so. Wie gerne hätte sie als Mädchen mehr am Flügel geübt, ihr Klavierspiel, für das sie großes Talent hatte, zu intensivieren. Aber das Leben bestand nur aus Kompromissen. Ihre Freundin Lotte war da anders, sie lebte ihre Kunst als Malerin aus.
S.37: Und wehe, man wage es, Gefühle und Ambitionen zu entwickeln, die nicht von den Eltern vorgesehen seien!
S.38: Wir haben so gut gelernt, unsere eigenen Gefühle zu unterdrücken! Aber ob nicht auch Frauen das Recht hätten, zu leben und das Leben in der Kunst noch einmal zu schöpfen, intensiver, lebendiger vielleicht als zuvor.
S. 39: Lotte ließ nichts davon gelten. Ehe und Kunst schlössen einander aus, das wisse Marianne so gut wie sie.
Während Marianne im Alter durch London schlendert, auf der Flucht vor unliebsamen Konversationen und auf der Suche nach sich selbst, erzählt die Autorin Mariannes Leben in Rückblicken. Sie streift ihre Kindheit, erzählt ausdrücklich von ihrer Ehe mit Paul. Paul ging in den Ersten Weltkrieg voller Überzeugung. Es entwickelte sich ein Briefverkehr zwischen den beiden, der, je länger der Krieg dauerte, keinen Hehl daran ließ, welche Prioritäten Paul setzte. Der Kampf ums deutsche Vaterland war im wichtiger als alles andere. Er fiel, kurz bevor der Wahnsinn sein Ende hatte. Marianne durchtauchte die Zeit. Die Nationalsozialisten erstarkten, als Halbjüdin hatte sie es schwer. Aber sie überlebte auch diesen zweiten großen Wahnsinn, kümmerte sich um ihre Mutter und den Vater ihres verstorbenen Ehemanns.
Sie samt ihren Wünschen und Begehren bleibt auf der Strecke. Erst im Alter entdeckt sie noch einen Anflug zum Mut der eigenen Selbstermächtigung.
Laetitia Lenel zeichnet mit ihrem Debütroman ein starkes Bild der Erwartungen an Frauen über einen großen Zeitraum. Als Basis für diesen wirklich sehr eindringlichen Roman dienten ihr der Briefwechsel ihrer Urgroßeltern. Sehr gekonnt setzt sie ihre Protagonistin in den Strudel der Zeit. Politische Details dürfen da genauso wenig fehlen wie der Blick auf die Kunst. Sie beschäftigt sich mit dem Thema der sogenannten Entnazifizierung, die nie wirklich stattfand. Plausible Erklärungen, warum nie darüber gesprochen wurde, sind nur ein kleines Detail dieses Buches, aber man merkt, dass es der Autorin ein Bedürfnis war, dies einzuflechten. Zu recht, wie ich anmerken möchte.
Dennoch, im Mittelpunkt steht das Thema Frau und ihre erwartete, zugedachte Rolle in der Gesellschaft. Marianne und Lotte bilden hier die beiden Pole.
S.125: Sie [Anm.:Marianne] war eine liebe Frau. Das würde man sagen. Eine liebe Frau. Mehr würde von alldem nicht bleiben.
Ich bin sehr begeistert von diesem Buch, dem ich sehr viele LeserInnen wünsche. Ganz große Leseempfehlung und ich hoffe, in Zukunft noch viele Bücher der Autorin lesen zu dürfen.