Besprechung vom 16.10.2021
Wieder romanfit werden
Terézia Mora gibt mit ihrem Tagebuch Auskunft über die Herausforderung der Arbeit an einem großen Romanprojekt.
Von Elena Witzeck
Was macht Schriftsteller greifbar, was nähert sie uns an? Pablo Neruda, wenn er sich erinnerte: "Ich fiel ins Bett wie ein Sack Zwiebeln auf den Markt"? Oder Ingeborg Bachmann, wenn sie sich über den anderen großen Schreiber in ihrer Wohnung beschwerte, der allzu engagiert in die Tasten griff, als ihr eigenes Blatt noch leer war? Sie nähern sich mit der Offenbarung, nicht nur Geist, sondern auch Körper zu sein. Mit dem Geständnis, sich zu quälen, am Alltäglichen zu scheitern.
Terézia Mora ist so eine Autorin, die man beinahe ins Genialische rückt, die mit respektvoller Distanz betrachtet wird. Eigentlich undenkbar, dass sie sich Tag für Tag ernähren muss. Tut sie aber, zum Beispiel von abgelaufenem Knäckebrot, und Geldsorgen hat sie auch, schreibt sie.
In ihrer Kindheit, so Mora, gab es immer Kritik, "wenn ich als ich selbst zu sichtbar wurde". In "Fleckenverlauf", ihrem Tage- und Arbeitsbuch, das den Namen wegen ihrer von Fahrradstürzen blau verfärbten Beine trägt, wird sie sichtbar. Ein Jahrzehnt umfasste ihre Romantrilogie, sie entstand von 2009 bis 2019. Den Deutschen Buchpreis bekam sie für deren zweiten Band, 2013. Kurz danach setzen ihre Tagebuchaufzeichnungen ein, und natürlich fragt man sich da: Gibt es wirklich noch etwas, was eine derart erfolgreiche Schriftstellerin vom Schreiben abhalten kann?
Ein ähnliches Notizbuch hat bereits Flora, die Frau von Darius Kopp, dem Protagonisten ihrer Trilogie, geführt. Er findet es erst nach ihrem Tod. In "Das Ungeheuer" sind die Dokumente, Skizzen, Übersetzungsarbeiten auf einer eigenen Erzählebene versammelt. Auch ihre Schöpferin wollte sieben Jahre lang ihr Leben dokumentieren, in ihren Vierzigern, einer nach ihrer Ansicht besonders mühsamen Zeit für Mensch und Schriftstellerin: "In der Mitte des Lebens hast du keine Zeit . . . Dann hechelt ihr die Oberflächen durch."
Am Ende wurden es fünfeinhalb Jahre, die wohlweislich mit dem Beginn der Pandemie enden, eine Collage persönlicher Beobachtungen, Gedichte, Briefe und Zitate, politischer Betrachtungen über ihr Herkunftsland Ungarn. Was in der Hochphase des Bloggens beginnt und auch Bezug auf ambitionierte Schreibprojekte im Netz nimmt, entwickelt sich zum dichten Bewusstseinsstrom, in dem die Figuren aus Moras entstehenden Geschichten immer greifbarer werden.
Geradezu intim wird es da, wo Mora ihr Hetzen durch einen Alltag zwischen Versenkung und Verpflichtung und das Scheitern an Geschichten beschreibt. "Ich trinke Tee, ich esse Schokolade, ich mache jeden Tag anstrengende Turnübungen. Im Grunde warte ich immer noch darauf, wieder romanfit zu werden." Lesereise, Auftragsarbeiten, dann wieder Familie, nie scheint wirklich Zeit für den "Flow" zu sein. Einmal sucht sie auf der Website "Fakenamegenerator" Namen für ihre Charaktere, einmal entsteht aus dem Gespräch mit einer jungen Frau im Flugzeug eine Figur.
Besonders kraftvoll ist es da, wo sie das Menschliche seziert, die Oberflächlichkeit der Kommunikation auch unter Freunden, "die ja gerade deswegen die Freunde sind, weil eine tiefere Kommunikation möglich wäre, man bewegt sich intellektuell und emotional im gleichen Bereich - aber es passiert einfach zu selten". Oder da, wo sie den Literaturbetrieb kritisch betrachtet und schließlich klagt: Niemand freut sich über Erzählungen. Alle wollen nur den nächsten Roman. Wie Mora aber recherchiert, akribisch, empathisch, mit wenig Rücksicht auf ihre Gesundheit, etwa als sie Zeitzeugen zu den jüdischen Zwangsarbeitern in der heutigen Slowakei befragt, das ist das eigentliche Faszinosum. Alle finden ihre Geschichten so traurig, schreibt sie. "Nur ich nicht. Ich finde, sie sind, wie das Leben nun einmal ist."
In ihrer Schonungslosigkeit mit sich selbst und dem Dasein trägt Mora auch zu ihrer Ikonisierung bei. Nachts, im Regen, am frühen Morgen fährt sie mit dem Rad durch die Stadt, sammelt Bilder vom "Leben auf der Straße", die sie für ihren prekären Helden braucht, stürzt, rappelt sich auf, beobachtet weiter. Man liest, und manchmal schaut man auf und sieht sich um. Und stellt fest, dass man gerade dabei ist, für einen Moment durch ihre Augen zu blicken. So nahe ist sie gekommen.
Terézia Mora: "Fleckenverlauf". Ein Tage- und Arbeitsbuch.
Luchterhand Literaturverlag, München 2021. 288 S., geb.
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