CLAUDE LANZMANN
1925 als Sohn assimilierter Juden in Paris geboren, schließt sich Lanzmann 1943 als Gymnasiast in Clermont-Ferrand der Résistance an. Nach dem Krieg Studium der Philosophie und Literatur. 1947 Universitätsabschluss in Tübingen, 1948/49 Dozentur an der FU Berlin. Anfang der 1950er Jahre Beginn seiner journalistischen Tätigkeit mit einer Serie von Reportagen über den Alltag in der DDR, die in Le Monde erscheinen. Seit 1952 und seit seiner Begegnung und engen Freundschaft mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir ständiger Mitarbeiter, später Herausgeber der von ihnen gegründeten politisch-literarischen Zeitschrift Les Temps Modernes. Vehementes Engagement gegen die französische Algerien-Politik.
Ende der 1960er Jahre erste Film- und Fernseharbeiten. 1968/69 Fernsehreportage über den Abnutzungskrieg . Die Filmarbeit wird Lanzmanns intensive Auseinandersetzung mit Israel über die Jahre stetig vertiefen. Sein Kinofilmdebüt WARUM ISRAEL (1973), mit dem er sich gänzlich vom Fernsehen löst und zu einer eigenen Filmsprache findet, ist eine fragend-heitere Annäherung an die noch junge Nation. Nach dem Erfolg seines Erstlings bittet das israelische Außenministerium Lanzmann um einen Film über die Judenvernichtung, ohne zu wissen, worauf es sich einlässt. Die ursprüngliche Auftragsarbeit wird jeden vorgesehenen Rahmen sprengen: Im Sommer 1973 Beginn der Arbeit an SHOAH den er 1985 also fast 12 Jahre später fertig stellt. Biografisch ein Abenteuer mit offenem Ausgang, cineastisch und historisch ein Großereignis, das die Grenzen des Dokumentarfilms radikal verschiebt und weltweit größte Anerkennung findet. Nicht nur für die Washington Post stellt die 9 stündige Spurensuche mit Opfern, Tätern und Statisten der Judenvernichtung im Nationalsozialismus 'Das Filmereignis des Jahrhunderts!' dar. Das ist nicht mehr der gängige Versuch, mittels Archivmaterial die historischen Ereignisse zu rekonstruieren und faktisch zu beglaubigen, noch geht es darum, die Ermordung des europäischen Judentums à la Spielberg fiktional in den Blick zu bringen. Lanzmann findet mit seiner Ausnahme-Dokumentation vielmehr zu einer ganz eigenen Form filmischen Gedenkens, indem er alles auf die Vergegenwärtigung in den Körpern und Stimmen seiner Zeugen setzt und auf die stumme Untröstlichkeit der Orte der Vernichtung, über die inzwischen Gras gewachsen ist.
Nach WARUM ISRAEL und SHOAH stellt er 1994 mit TSAHAL seinen Film über die israelischen Streitkräfte fertig, den letzten Teil seiner jüdischen Trilogie. Ein Abschluss, und doch kein Ende: Das Mittelstück der Trilogie, sein Hauptwerk SHOAH, erweist sich fortan buchstäblich als Lebenswerk 'als unerschöpfliche Quelle'. Durch die schiere Menge an gedrehtem Material mit den unterschiedlichsten Zeugen nämlich hat dieses Jahrhundert-Filmprojekt, das so folgenreich auf die Modi der dokumentarischen Absicherung durch Archivdokumente verzichtet,gleichwohl selbst wichtiges Archivmaterial produziert: rund 200 Stunden nicht verwendete Film-Interviews mit zahlreichen inzwischen verstorbenen Zeugen einige davon bekannt aus SHOAH (i. e. Outtakes der verarbeiteten Gespräche), aber auch eine Vielzahl weiterer Interviews, die während der Konstruktion des Films ganz aufgegeben wurden und die nun im United States Holocaust Memorial Museum verwahrt und öffentlich zugänglich gemacht werden.
Über eine Dekade ließ der Regisseur nach der Premiere von SHOAH verstreichen, bevor er sich daran machte, aus dieser Flut an Rohmaterial behutsam weitere Nebenarme auszuwählen und neue Filme zu schaffen, um das Gedrehte erneut zum Sprechen zu bringen. Das reine Dokument dient ihm dabei stets nur als Zündung für neue filmische Konstruktionen. Diesmal nicht als kunstvoll ineinander verwobener Chor von Stimmen: Er wählt sich jeweils einen Kronzeugen, bereist die Orte erneut und beleuchtet ein Thema, das den strengen Rahmen von SHOAH dieser heillosen Fürsprache für die Toten gesprengt hätte: das Versagen der Hilfsorganisation (EIN LEBENDER GEHT VORBEI, 1997), der Heldenmut des jüdischen Aufstands (SOBIBOR, 14. OKTOBER, 16 UHR, 2001), das ungläubige Wissen der freien Welt (DER KARSKI-BERICHT, 2010) und zuletzt mit DER LETZTE DER UNGERECHTEN (2013): die unlösbaren moralischen Konflikte der Judenältesten . Und jetzt: VIER SCHWESTERN: Es sind dies ebenso eigenständige Werke der Filmkunst wie Fortschreibungen des Hauptwerks.
'Ehrlich gesagt hätte ich nicht geglaubt, nach SHOAH noch einen Film zu drehen, nach diesem epischen Film mit einem einzigen Hauptdarsteller: dem Tod. So übergab ich alles nicht verwendete Rohmaterial dem Holocaust Museum in Washington, damit es sicher verwahrt würde. Ich hatte auch zunächst keine Kraft weiterzumachen. Vor einigen Jahren jedoch entschied ich
mich, erneut auf das Material zurückzugreifen, SHOAH ist in gewisser Weise ein Film, der kein Ende hat, ein unendlicher Film. eine fortwährende Schöpfung.' Claude Lanzmann