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Die 32 Schimmelarten des Joseph Brodsky

Gedichte und Fotos

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Am 24. Mai 2015 wurde die Kommunalka in Sankt Petersburg, in welcher der russische Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky in seiner Jugend wohnte, anlässlich seines 75. Geburtstages für einen Tag geöffnet. Da man dort 32 unterschiedliche Schimmelarten fand, schloss man die Wohnung gleich danach wieder. Die Restaurierungsarbeiten werden vermutlich noch einige Jahre andauern.

Jedes Gedicht dieser Brodsky-Anthologie öffnet auf seine Weise vorzeitig das Joseph-Brodsky-Museum. Sie entstand zunächst auf Facebook und versammelt Texte, die aus Texten Brodskys wie Schimmel herauswachsen. Mit 16 Fotografien der Kommunalka von Christian Kreis, der die Wohnung an diesem einen Tag besucht hat.

Gedichte von Patrick Wilden, Ulf Stolterfoht, Michael Spyra, Tzveta Sofronieva, Simone Scharbert, Tobias Reußwig, Bastian Reinert, Martin Piekar, José F. A. Oliver, Birthe Mühlhoff, Léonce W. Lupette, Bernd Lüttgerding, Norbert Lange, Christian Kreis, Thorsten Krämer, Claudia Kiefer, Viktor Fritzenkötter, Matthias Friedrich, Manfred H. Freude, Ingo Ebener, Alexandru Bulucz, Timo Brandt, Michael Augustin.

Alexandru Bulucz, geboren 1987, übersetzt aus dem Französischen und dem Rumänischen, rezensiert Lyrik für verschiedene Onlineportale, für Print und Rundfunk. Sein Lyrik-Debüt Aus sein auf uns erschien 2016. 2018 kuratierte und übersetzte er den lyrischen Rumänienschwerpunkt in der Literaturzeitschrift LICHTUNGEN.

Produktdetails

Erscheinungsdatum
18. Februar 2019
Sprache
deutsch
Seitenanzahl
87
Dateigröße
6,65 MB
Autor/Autorin
Patrick Wilden, Ulf Stolterfoht, Tzveta Sofronieva, Simone Scharbert, Tobias Reußwig
Herausgegeben von
Alexandru Bulucz
Verlag/Hersteller
Kopierschutz
ohne Kopierschutz
Produktart
EBOOK
Dateiformat
EPUB
ISBN
9783944543765

Pressestimmen

Besprechung vom 06.06.2019

Wo Schimmel ist, da ist Kultur
Eine Gedichtanthologie zu Ehren Joseph Brodskys erweist sich als lebendige Sporen-Suche

"Jemand, der ein Gedicht schreibt, tut dies vor allem, weil das Schreiben von Gedichten den Geist, das Denken und das Erfassen des Universums auf außerordentliche Weise beschleunigt", sagte der Poet Joseph Brodsky im Dezember 1987 in seiner weltberühmten Nobelpreisrede. Wer diese Beschleunigung einmal erfahren habe, werde süchtig danach. Er selbst, der wohl bedeutendste russische Lyriker des zwanzigsten Jahrhunderts, war es zweifellos: süchtig nach Verdichtung des Erfahrenen, süchtig nach Sprache, in der er das überzeitliche Antidot gegen alle politische Unbill sah. Für Brodsky galt: Ästhetik schlägt Wirklichkeit; Dostojewski schlägt Tolstoi; Bücher stehen über dem Leben. In der Poesie vollende sich das Individuum, zerbreche alle Kollektivierung.

Diese neoromantische Haltung diente auch der Selbstimmunisierung, schließlich hatte der 1940 in Leningrad Geborene von früher Kindheit an unter dem Sowjetsystem zu leiden. Es hatte Brodskys jüdischen Vater gedemütigt und ihm nur dumpfe Indoktrination zu bieten. Mit 24 Jahren wurde der rebellische Literat als "arbeitsscheuer Parasit" zu Zwangsarbeit verurteilt, bevor ihn sein Land 1972 achtlos aushustete. Fünfzehn Jahre später erhielt der fortan in den Vereinigten Staaten Lebende den Nobelpreis für Literatur. Bald darauf zerkrümelte die Sowjetunion, Brodskys messerscharfe Lyrik aber strahlt und blitzt wie eh und je. Er hat, darf man sagen, Wort gehalten.

Bis zu seiner Ausbürgerung, ganze 32 Jahre lang, hatte der Dichter gemeinsam mit seinen Eltern anderthalb Zimmer einer Gemeinschaftswohnung in Sankt Petersburg bewohnt. Mit Bücherwänden zweigte er sich darin zehn private Quadratmeter ab. Die Wohnung wurde 2015 zum Museum erklärt, war jedoch - Gipfel der Ironie - nur einen einzigen Tag lang geöffnet. Der Grund dafür ist nicht eindeutig. Einerseits wird der Einspruch der alten Bewohnerin der anderen Wohnungshälfte angeführt, andererseits soll Schimmel gefunden worden sein. Die deutsche Wikipedia wird an dieser Stelle "unverhältnismäßig detailliert", wie dem Schriftsteller Alexandru Bulucz aufgefallen ist: "Die Restaurierungsarbeiten werden voraussichtlich noch einige Jahre andauern, da dort 32 unterschiedliche Schimmelarten entdeckt wurden." Ein Schimmel für jedes Jahr: konkrete Poesie.

Schnell war die Idee geboren, via Facebook Poeten unserer Tage aufzurufen, diese Schimmelarten gewissermaßen noch einmal aufblühen zu lassen: Gedichte waren erwünscht, die - zeigend, nicht sagend - Auskunft darüber geben, was Brodsky Lyrikern heute noch bedeutet, Texte, die laut Buluzc "schimmelartig in andere Texte hineinwachsen" sollten. Neunzehn Autoren und vier Autorinnen haben sich an dieser schönen Sporen-Suche beteiligt, darunter einige bekannte Namen wie Tzveta Sofronieva, die Brodsky noch persönlich kannte, José F.A. Oliver oder Ulf Stolterfoht. Integriert ist auch ein Fotoessay von Christian Kreis, der die - famos abgeratzte - Wohnung im Detail besichtigt.

So wie Brodsky in seinen gern gereimten Gedichten, die an Zehn-Quadratmeter-Refugien hinter Bücherbergen erinnern, zwischen zärtlichen, lakonischen und elegischen Stimmungen wechselte, wie er die russische Tradition mit moderner Verfremdung versöhnte, so greifen auch die vorliegenden Poeme stilistisch und inhaltlich in alle Richtungen aus. Mal sind es direkte Auseinandersetzungen mit bestimmten Texten - Bulucz lässt in Anlehnung an Brodskys Weihnachtsgedicht von 1971 einen Schlange stehenden Sowjetbürger über die Folgen der Orangenknappheit sinnieren: "Was, wenn's eine einzige, doch schimmlige Orange gibt" -, mal saftig grüne Wortspielwiesen: "rimpel-, ropel-, hopelrei / ein schatten händchenhohl / auf eschgang / landet an und auf" (Matthias Friedrich).

Teils wird es poetologisch selbstreflexiv - eine "Frischhaltebox" sei der Dichter, "für wenn er tot ist. Für wenn die Sprache tot ist / oder veraltet"; nur gut verschlossen müsse dies Gefäß sein, sonst drohe "Fäulnis" (Birthe Mühlhoff) -, dann wieder persönlich: "Joseph starb an Versagen des Herzens / das es satt hatte, die Schönheit zu preisen / und Menschen zu ertragen" (Tzveta Sofronieva). Andere Beiträger lassen sich von der Wohnung selbst inspirieren: "Ideale erwachen im Träger / Antworten verstummen im Chor / die Freiheit ist ein Ungeheuer / der Wind entweicht heimlich durch den Flur" (Claudia Kiefer). Für Michael Spyra ist diese Wohnung "ein Pass / mit zweiunddreißig Stempeln".

Vielfach wird der Schimmel (ein Parasit, zu dem man auch Brodsky erklärt hatte) gepriesen ob seiner Vielgestalt und trotzigen Partisanenhaftigkeit, "ein ansetzen und fortsetzen / manche nennen es sprache" (Simone Scharbert). Bei Ulf Stolterfoht steigen die Pilzgeflechte zu treuen Weggefährten, ja Wächtern auf. Den "letzten Schimmel", "Spezies: blutroter Milchschimmel", macht der Autor "auf dem leichenhemd" des Geehrten ausfindig. "Heute" bewohne dieser Schimmel gemeinsam mit den Gebeinen Brodskys einen "eichensarg" in Venedig - und ist immer noch quicklebendig. So gilt in der Tat: Nicht nur das Verfassen, sondern bereits das Lesen dieser poetischen Annäherungen an den Wortrebellen von der Newa beschleunigt das Erfassen des mycelgleich unbesiegbaren, seine Hyphen auswerfenden Brodsky-Universums ungemein - und vielleicht sogar das Denken.

OLIVER JUNGEN.

Alexandru Bulucz (Hrsg.): "Die 32 Schimmelarten des Joseph Brodsky". Mikrotext, E-Book

© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.

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