Eines ist sicher: Dieses Buch hat meine Erwartungen nicht erfüllt.Der Klappentext spricht von "zwei Paaren und fünf Kinder in einem alten Haus mitten im kanadischen Wald" - doch um sie geht es gar nicht. Oder sagen wir, eher am Rande. Ihr coronabedingter Wegzug aus Montréal in ein abgelegenes Haus im tiefen Wald an der kanadisch-amerikanischen Grenze ist quasi nur das auslösende Moment für die Autorin, ihre persönlichen Gedanken, Eindrücke und Erlebnisse während dieser Zeit festzuhalten. Die zwischenmenschlichen Dramen im Blauen Haus bleiben größtenteils unter Verschluss, dafür widmet sich Anaïs Barbeau-Lavalette ausführlich der Geschichte ihres Hauses und den Geschichten ihrer "Nachbarn". Sie gewähren einen vielschichtigen Einblick, was es bedeutet, in dieser abgeschiedenen Gegend zu leben, und warum es sie hierher verschlagen hat.Die Natur ist es.Die Autorin versucht zu ergründen, was die wilde Natur mit uns Menschen macht. In teils sehr kurzen Kapiteln plaudert sie von Alltäglichkeiten und erklärt Besonderheiten. In extravaganter, atmosphärischer Sprache reflektiert sie, was sie sieht, hört, fühlt.Und hier wird meine - ehrlicherweise kaum vorhandene Erwartung - nicht nur nicht erfüllt, sondern bei weitem übertroffen. Die Eleganz und Dichte, mit der die Autorin ihre Sätze konstruiert, ist überraschend, sie irritiert mich anfangs, verschlägt mir manchmal den Atem, doch irgendwann lasse ich mich einfach nur noch dahintreiben und genieße sie."Im dichten Wald hat Hermann Zickzackwege angelegt, die Spaziergänger dazu zwingen, allem zu begegnen, was vor ihnen auftaucht." (S. 93)Dieses Buch ist genauso. Es mäandert scheinbar zusammenhanglos durch verschiedene Jahrzehnte, Menschenleben, Pflanzenbeschreibungen mit der großen Mission, die Leserschaft dazu zu zwingen, sich mit allem auseinanderzusetzen, was zwischen den Buchseiten auftaucht.Dabei spielt auch das Sterben eine wichtige Rolle; in fast jedem Kapitel wird gealtert, erkrankt, verloren, gestorben, getötet. Denn: die Natur, das ist "fressen und gefressen werden". Die Natur gibt, die Natur nimmt."Jeden Abend stellt Maggie sich vor den Stall, Auge in Auge mit der Natur. Mit ihrem Zwölfer-Kaliber schießt sie auf die Bäume, tötet den Wald, der ihr die Liebsten genommen hat." (S. 117)Trotzdem, oder genau deswegen, ist "Sie und der Wald" eine Lektüre, die große Lust aufs Leben macht. Auf die Begegnung mit dem Leben. Auf Menschen, Tiere und Pflanzen. Auf das Verbindende, auf die Liebe. "Hier auf dem Land empfinde ich einen echten, reinen Stolz, der nichts mit dem Ego zu tun hat. (...) Ich habe das Gefühl zu wachsen. Ich bin weder größer noch stärker. Ich bin einfach nur weitläufiger." (S. 175)Mein unerwartetes, inhaltsschwaches, packend sinnliches Leseerlebnis in eine Bewertungstabelle zu stecken, fällt mir schwer. Es gäbe einiges an diesem Roman - der kein Roman ist! - auszusetzen. Aber angesichts dessen, wie intensiv ich mich an seine Seiten geklammert habe und wie sehr ich mich an seiner Intensität und Poesie gelabt habe, lasse ich gerne alle Sterne erstrahlen.