Zwei eindringliche Perspektiven auf Ideologie, das Existentielle und auf die Liebe zum Detail
Werner lebt in den 1930ern als Waise gemeinsam mit seiner Schwester im Ruhrpott. Über dem mathematisch-technisch hochbegabten Junge, der mit Begeisterung Radios baut und repariert, hängt das Damoklesschwert sobald zulässig unter Tage zu schuften, wie sein Vater, der nicht zurückkehrte. Die Möglichkeit diesem Schicksal zu entfliehen und seinen Interessen nachzugehen, eröffnet sich mit der Aufnahme an einer Napola, einem Ort der erbarmungslosen, ideologisch-indoktrinierten Elitenförderung. Sein Weg soll ihn bald als Spezialist für Funktechnologie an die Fronten des 2.Weltkriegs führen.Marie-Laure ist früh erblindet und lebt mit ihrem ebenfalls technisch äußerst begabten Vater in Paris. Er arbeitet im Naturkundemuseum, ihrer zweiten Heimat und arbeitet leidenschaftlich für die Selbstständigkeit seiner Tochter, mit der er die Stadt quasi vermisst bis sie alle wichtigen Wege auswendig kann, der er Modelle baut und teure Bücher in Braille-Schrift besorgt. Die Tochter wird zur Spezialistin für Details.Eine große Rolle für Marie-Laure soll der Roman "20.000 Meilen unter dem Meer" spielen - auch im Fortgang des Romans. Vater und Tochter bringt die Flucht zum Großonkel in die alte Küstenstadt Saint-Melo, dort landet auch Werner für die Wehrmacht.Der Roman achtet sehr auf die Details, bringt Bekanntes z.T. episodenhaft oder wie selbstverständlich (Die Familie des Freundes hofft auch die bessere Wohnung im 4.Stock. Sie gehört einer Jüdin. Der Großonkel verbarrikadiert sich in seinem Haus, zwischen Radios, Büchern usw. Er leidet unter den Folgen seiner Erlebnisse des 1.Weltkriegs usw.). Dennoch scheint alles auf einer anderen Ebene der Wahrnehmung und erzeugt in der Kombination von Technik mit verschiedenen sinnlichen Eindrücken für eine besondere Atmosphäre, wie ich finde. Die Kapitel sind relativ kurz, die Schicksale zweier Jugendlicher laufen aufeinander zu, z.T. sehr spannend, oft auch sehr bedrückend, und traurig, aber mit für einen Weltkriegsroman wenig Brutalität. Das hat der Roman nicht nötig. Obwohl der Autor z.T. in der Zeit springt, also die Ereignisse nicht völlig chronologisch erzählt und neben der Perspektive der beiden Jugendlichen auch noch weitere eingeflochten werden, hat man keinerlei Schwierigkeiten zu folgen.