Was ist Philosophie? Und welche Rolle spielt sie in der Gegenwartsgesellschaft? Zwischen Juli und Oktober 1966, einige Monate nachdem er durch das Erscheinen von Die Ordnung der Dinge schlagartig zum neuen Star der Philosophie aufgestiegen war, gab Michel Foucault in einem sorgfältig durchkomponierten Manuskript seine Antwort auf diese bis heute viel diskutierten Fragen. Im Gegensatz zu denjenigen, die entweder das Wesen der Philosophie enthüllen oder sie gleich für tot erklären wollen, begreift Foucault sie als einen Diskurs, dessen Ökonomie im Vergleich mit anderen Diskursen - wissenschaftlichen, literarischen, alltäglichen, religiösen - herausgearbeitet werden muss.
Der Diskurs der Philosophie schlägt somit eine neue Art und Weise der Philosophiegeschichtsschreibung vor, die von der reinen Kommentierung der großen Denker wegführt. Nietzsche nimmt allerdings einen besonderen Platz ein, da er eine neue Epoche einleitet, in der die Philosophie zur Gegenwartsdiagnose wird: Von nun an ist es ihre Aufgabe, einer Gesellschaft zu erklären, was ihr Zeitalter ausmacht. Nirgendwo hat Michel Foucault die Ambitionen seines intellektuellen Programms so deutlich gemacht wie in diesem Werk, das fast 60 Jahre nach seiner Niederschrift nun erstmals veröffentlicht wird. Eine kleine Sensation!
Besprechung vom 15.09.2024
Philosophie ist eine Form, zu leben
Aufschlussreiches aus dem Nachlass: Michel Foucaults "Der Diskurs der Philosophie" aus dem Jahr 1966 erscheint jetzt auch auf Deutsch.
Wir philosophieren unwiderruflich zwischen Gott und der Krankheit; zwischen dem, was wir hören, und dem, was wir erleiden. Zwischen dem Wort und dem Körper." Diese Worte finden sich auf den ersten Seiten von Michel Foucaults gerade auf Deutsch erschienenen, aus dem Nachlass edierten Buch "Der Diskurs der Philosophie". Und man ist mit diesen Worten und dem gesamten, mit "Diagnose" überschriebenen ersten Kapitel sofort in Foucaults Universum angekommen. Diese Sätze sind nämlich selbst schon so etwas wie eine Diagnose. Und zwar eine allgemeine wie eine besondere. Die allgemeine Diagnose zielt darauf, dass es in fast allen bekannten Kulturen eine Nähe zwischen dem Arzt oder Medizinmann und dem Priester oder Schamanen gab und gibt, ohne dass die beiden Positionen einander zuarbeiteten oder kongruent wären. Die Nähe von Krankheiten und religiösen Kulten, die auch die Funktion der Heilung bedienen, kann man als ein universelles Phänomen betrachten. Die Frage, die Foucault umtreibt, handelt davon, wie und wo es der Philosophie und den Philosophen gelang, sich in dieses Verhältnis einzumischen.
Foucault sieht eine spezifische Weise der Einmischung in das Verhältnis von Wort und Körper in der klassischen, sogenannten abendländischen Philosophie. Also in jener Philosophiegeschichte, die von Anaximander oder Heraklit über Hegel bis zu ihm selbst führt, dem Philosophen Foucault, der gerade, man schreibt das Jahr 1966, mit "Die Ordnung der Dinge" berühmt und zu einem Jungstar seines Faches geworden war. Foucault schrieb den Text im Sommer, eine Datumsangabe lautet "heute, 27. Juli 1966", und er weiß, dass er von einer privilegierten Position aus schreibt, aus der Position eines akademischen Philosophen. Seine Schlüsse sind dabei oft apodiktisch. Von der Phrase vom Ende der Philosophie oder ihrer Überflüssigkeit, die in den Sechzigerjahren kursierte, hält er so wenig wie von der Floskel vom Ende der Romans.
Foucault ist gern ein glücklicher Philosoph, und man versteht mit seinem Diskurs der Philosophie wirklich besser, was er meinte, als er viel später sagte, Philosophie sei nicht bloß ein Fach und Philosoph zu sein sei eine bestimmte Form, zu leben. Um Philosoph zu sein, reicht es nicht aus, sich auf einem Lehrstuhl effektvoll die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Philosophie zu betreiben ist für Foucault entschieden eine ethische Frage, die sich am Philosophen selbst entscheidet. Verkürzt könnte man sagen: Foucault fragt in dem Buch auch nach den Bedingungen und Gründen, die es ihm, Michel Foucault, ermöglichen, mit seinem Namen in den philosophischen Diskurs einzusteigen.
Womit eines der spezifischen Elemente des philosophischen Diskurses benannt ist: Die Philosophie kommt im Unterschied zu Wissenschaft und Kunst nicht ohne das Ich des Philosophen aus. Zwar publizieren auch in den Wissenschaften Autoren, das Ich jedoch, das Subjekt des Autors, wird in den Ergebnissen durch genaue Protokolle, methodische Transparenz und offengelegte Theorien so weit zurückgedrängt, dass eine Erkenntnis zu jeder Zeit überall auf der Welt von jedem verwertet werden könnte, ohne strikt an die Autoren gebunden zu bleiben.
Ähnliches gilt laut Foucault für den literarischen Diskurs. Literarische Werke hätten zwar einen Autor, dessen Ich sei aber selbst dann, wenn er "Ich" sagt, nicht er selbst. Der literarische Text bewege sich in der Fiktion, und zwar so, dass man ihn auch ohne Bezug zum Ich des Autors und dessen Gegenwart lesen könne.
Ein Philosoph aber entkomme der Triade "Ich-Hier-Jetzt" nicht. Jedes wissenschaftliche Wissen sei so verfasst, dass es sich nicht um das Jetzt scheren müsse. Die Wissenschaft platziert ihr Wissen in Protokollen, Methoden und Theorien, die vom "Jetzt" befreit sind. Die Literatur tut das auf ihre Weise, indem sie Werke in die unendlichen Ströme der fiktiven Welterfassung einspeist.
Nur der Philosoph kommt aus dem "Jetzt" nicht heraus, weil er noch nie etwas anderes war als ein Diagnostiker seiner Zeit und weil er diese Diagnose der Gegenwart mit seinem Namen unterschreibt, was bei Foucault heißt: mit seinem Leben. Im Unterschied zum Arzt oder Priester muss der Philosoph der Gegenwart aber wissen, dass er nicht heilen kann. Der Philosoph diagnostiziert, ohne zu heilen. Das macht seine Diagnosen aber nicht hinfällig. Denn wer soll sonst von den Krankheiten der Sprache berichten, die den Körper von dem Moment an befallen, in dem das Wort Fleisch wurde? Foucault jedenfalls hat es in der Folge seines Diskurse der Philosophie ausgiebig getan, indem er über die Macht, die Gefängnisse, die Sexualität oder die Selbstpraktiken der Griechen geschrieben hat. Sein Diskurs der Philosophie ist dabei nicht weniger als seine auch persönliche Grundlegung und Rechtfertigung. Von dieser Basis aus griff er in den philosophischen Diskurs ein.
CORD RIECHELMANN
Michel Foucault: "Der Diskurs der Philosophie". Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp, 352 Seiten
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