
Besprechung vom 21.10.2025
Neutralität, Kaiserschmarrn - und was noch?
Ein anekdotenreicher Dauerlauf durch die Geschichte des modernen Österreichs nach 1945
Wenn Österreich am kommenden Sonntag seinen Nationalfeiertag begeht, wird sich mancher wieder die Frage stellen, was dieses kleine Land eigentlich ausmacht. Jene Nation, deren Ahnen über Jahrhunderte die deutschen Kaiser stellte, die zu Habsburgerzeiten als Großmacht die Geschicke des Kontinents mitbestimmte und die dann, als der Vielvölkerstaat 1918 zerfallen war, plötzlich als kleine Rumpfrepublik überleben musste.
Damals, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, war für die meisten Österreicher klar, dass eine Zukunft nur im Deutschen Reich Sinn ergeben konnte. Schon, weil man einen Staat von ein paar Millionen Einwohnern kaum für lebensfähig hielt, aber auch, weil es dem eigenen Selbstverständnis entsprach, im Kreis der Mächtigen zu sitzen. Doch nach dem "Anschluss" 1938, der erst euphorisch gefeiert worden war und der dann in die Katastrophe führte, war die "großdeutsche Lösung" endgültig vom Tisch.
Damit beginnt die Zeit, die sich György Dalos in seinem Buch "Neutralität und Kaiserschmarrn" vorgenommen hat. Man könnte die beiden Begriffe als die wesentlichen Säulen der Identität des modernen Österreichs bezeichnen. Die Neutralitätserklärung, die sich am 26. Oktober zum siebzigsten Mal jährt, rettete den kleinen Staat nicht nur vor einer ähnlichen Teilung, wie sie die deutschen Nachbarn über vier Jahrzehnte erlitten. Sie half Österreich auch, trotz seiner Frontlage sicher durch die Jahre des Kalten Krieges zu kommen, und bot dem Land eine Nische, in der Wien wieder eine gewisse weltpolitische Relevanz erhielt - einerseits als Sitz einer ganzen Reihe von internationalen Organisationen, andererseits als Ort zwischen den Blöcken, an dem sich die Gegner zum diskreten Austausch zusammenfinden konnten. Und der Kaiserschmarrn? Der könnte für jenes Österreichbild stehen, das in den ersten Jahrzehnten nach 1945 vor allem als Sissi- und Heimatkitsch kultiviert wurde, später aber mit Kultur- und Bergtourismus zu einem zentralen Wirtschaftsfaktor des Landes wurde.
Wer sich hinter diesem vielsagenden Buchtitel allerdings eine Suche nach der österreichischen Identität erwartet, wird nach der Lektüre enttäuscht sein. György Dalos, 1943 in Budapest geboren und als Kind seiner Zeit eng mit dem Lauf der Geschichte im Donauraum verbunden, hat einen anekdotenreichen Kurztrip durch die Geschichte Österreichs seit 1945 verfasst, der einen besonderen Blick auf die Wechselwirkungen mit den Nachbarstaaten jenseits des Eisernen Vorhangs wirft, mit denen das Land einst im Habsburgerreich verbunden war.
Dalos beginnt mit einem Reisebericht George Orwells, der unter anderem als BBC-Korrespondent im Frühjahr 1945 ins kriegsversehrte Alpenland kam. Auf seine Frage, was die Alliierten mit Österreich vorhätten, bekam Orwell nur die Antwort: "Keine Ahnung." Das ist der Ausgangspunkt, von dem aus Dalos den mit historischen Zufällen gepflasterten Weg zum Staatsvertrag nachzeichnet, der dem Land 1955 die Neutralität und den Abzug der alliierten Truppen bescherte - und der die Wiener Bevölkerung in einen endlosen Freudentaumel versetzte, nachdem Bundeskanzler Leopold Figl sein berühmtes "Österreich ist frei!" verkündet hatte.
Dann kommen die 1960er-Jahre, das viertägige Treffen zwischen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow in Wien, das zwar weitgehend ergebnislos blieb, dem Land aber eine weitere Aufwertung verschaffte; die Ära Kreisky und der Terrorismus der 1970er-Jahre, vor dem die österreichische Regierung beinahe widerstandslos einknickte, was in einem historischen Foto verewigt bleibt, auf dem Innenminister Otto Rösch den international gesuchten Topterroristen Carlos am schneeverwehten Flughafen Schwechat kurz vor Weihnachten 1975 mit Handschlag verabschiedet.
Carlos hatte im OPEC-Hochhaus zuvor mit ein paar Bewaffneten 61 Geiseln genommen und drei Menschen erschossen, darunter einen Wiener Polizisten. Doch für die Regierung von Kurt Kreisky schien das Hauptanliegen darin zu bestehen, den Terror bloß nur aus dem eigenen Land fernzuhalten. Dalos führt in hohem Tempo weiter, durch die zahllosen Skandale von Lucona bis Ibiza, die sich wohl mit dem österreichischen Wesenszug ertragen lassen, das eigene Land und seine Politik nicht allzu ernst zu nehmen - und mit dem doppelbödigen Humor, von dem sich die bundesdeutschen Nachbarn gelegentlich eine Scheibe abschneiden könnten.
Eine Anekdote wert ist auch Österreichs kurzer Ausflug in die Kernenergie: Das Atomkraftwerk Zwentendorf war Ende der 1970er-Jahre schon beinahe fertiggestellt, doch die Proteste rissen nicht ab. Da ließ Kreisky kurzerhand eine Volksabstimmung anberaumen - und erhöhte den Einsatz sogar noch, indem er im Fall eines "Neins" seinen Rücktritt in Aussicht stellte. Dieser Schwenk brachte wiederum die ÖVP dazu, plötzlich selbst gegen die Kernenergie zu opponieren - in der Hoffnung, so zumindest den roten Kanzler loszuwerden. Die Atomkraftgegner gewannen mit hauchdünnem Vorsprung. Kreisky akzeptierte das Votum und besiegelte den Ausstieg aus der Kernkraft, bevor Österreich überhaupt eingestiegen war. Nur den versprochenen Rücktritt vollzog er nicht - weshalb die ÖVP nun zwar ohne Atomkraftwerk, aber weiter mit dem roten Kreisky im Kanzleramt dastand.
Dieser schnelle Ritt durch die Jahrzehnte bleibt nicht ohne Abstriche. Dalos spinnt keinen roten Faden. Wer tiefere Einsichten sucht, sollte sich an das im Jubiläumsjahr neuaufgelegte Standardwerk "Die paradoxe Republik" des Historikers Oliver Rathkolb halten. Doch lesenswert sind die unmittelbar wirkenden Einblicke, die Dalos seinem Leser verschafft, allemal. ALEXANDER HANEKE
György Dalos: Neutralität und Kaiserschmarrn. Eine Geschichte Österreichs seit 1945.
Verlag C.H. Beck, München 2025. 224 S.
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