Zum Denken braucht es abstrakte Begriffe. Wenn wir zum Beispiel sagen: "Im Wald stehen Bäume", dann haben wir in dieser einfachen Aussage zwei solcher Begriffe benutzt, nämlich Wald und Bäume. "Den Baum" gibt es in Wirklichkeit nicht. Es existieren nur konkrete Bäume, die man anfassen oder sehen kann. Allein aus diesem Grund existiert "das Böse" in der Realität nicht. Es ist nur in unserem Kopf. Aber auch dort kann man es noch nicht einmal definieren. Vielmehr versucht dieser abstrakte Begriff lediglich eine gewisse Ordnung und Systematik im Erfassen böser Taten herzustellen, denen wir meistens mit einer gewissen Ohnmacht und ohne wirkliches Verständnis begegnen.Und genau so funktioniert dieses Buch. Es beschreibt nach vier mehr oder weniger abstrakt gefassten Abschnitten immer einen Begriff mit dem Adjektiv böse, also beispielsweise böse Lust oder böses Schweigen, wobei dann Taten, Um- oder Zustände erklärt werden. Dabei erzählt der Autor immer wieder konkrete Mordfälle. Etwas wie eine Ehefrau plötzlich nach vielen Jahren ihren sie nur noch anschweigenden Ehemann ohne Vorwarnung ersticht. Nicht die allgemeinen Ausführungen des Autors machen das Buch einigermaßen interessant, sondern eben diese realen Taten. Mit ihnen versteht man endlich das abstrakte Gerede, das den Hauptteil des Buches ausmacht, jedoch keine wirklichen Erkenntnisse zutage fördert.Vielmehr handelt es sich nach meinem Empfinden lediglich um den Versuch mit solchen Taten geistig fertig zu werden, einfach weil sie die Dimensionen des normal Erlebbaren bei den allermeisten Menschen sprengen. Deshalb verpackt man sie in eine Schachtel im Gehirn und schreibt "das Böse" darauf. Was aber soll das bringen? Wenn jemand eine alte Dame um ihre Ersparnisse bringt, ist das auch eine böse Tat. Oder nicht? Aber sie ist nicht böse genug, um "das Böse" zu sein. Denn dazu müssen noch andere Kriterien her, die den sogenannten "Code des Bösen" ausmachen. Wieder so ein seltsamer Begriff.Der Autor schreibt: "Aus kriminalpsychiatrischer Sicht sind in einer durch und durch bösen Tat folgende Elemente, die den Code des Bösen bilden könnten, enthalten:¿ Fehlende Empathie¿ Einseitige Machtverteilung¿ Psychopathische Charakterstruktur (Sadismus, Maligner Narzissmus)¿ Entwürdigung der Opfer¿ Planungsgrad¿ Schwere Folgen für die Opfer¿ Missachtung des Moralinstinktes."Mit diesem Satz enttarnt sich der Text als nicht durchdacht, unlogisch, spekulativ und praktisch nutzlos. Warum? Erstens unterscheidet der Autor plötzlich zwischen bösen und "durch und durch bösen" Taten. Das ist eher komisch als in irgendeiner Art wissenschaftlich. Zweitens kommt dann ein Konjunktiv ("bilden könnten"), der nicht erklärt wird. Drittens folgt das Wort Code, mit dem man nichts anfangen kann. Ist damit "Definition" gemeint? Und viertens schließlich sind einige der vorher im Buch geschilderten Taten nach diesem "Code" nicht mehr "durch und durch böse". Die Tat der messerstechenden Ehefrau beispielsweise war spontan und wenig entwürdigend. Der Psychopath war in diesem Fall eher der Schweiger. Wozu hat Haller diese Tat in sein Buch aufgenommen, wenn sie den "Code des Bösen" gar nicht erfüllt?Kurzum: Der Autor befindet sich auf einer psychiatrischen Spielwiese, auf der er sich leidlich austobt. Als Leser staunt man lediglich darüber, was es alles für Leute auf dieser Welt gibt. Und allein das macht das Buch interessant. Es gibt in der Tat Abgründe menschlichen Verhaltens. "Das Böse" jedoch ist allein wegen seiner Abstraktheit nur eine Erfindung des Verstandes, ist nicht definierbar und deshalb nutzlos. Außer vielleicht für Autoren solcher Bücher oder für Schriftsteller im Horrorbereich.Was bleibt ist eine merkwürdige Faszination böser Taten. Sie nämlich nutzt der Autor geschickt aus, um daraus dieses mehr oder weniger verwirrende Buch zu schreiben. Und diese Faszination ist es, die uns Krimis lesen oder ansehen lässt. Oder uns zu solchen Büchern treibt, die zwar konkrete Taten aus psychologischer Sicht erklären können, aber in ihrer gewollten Allgemeinheit nutzlos sind.