In seinem neuen Hörbuch erzählt Uwe Timm von seinen Lehrjahren als Kürschner im Hamburg der Fünfzigerjahre. Von kuriosen Erlebnissen im Beruf und der Welt der Mode, von besonderen Freundschaften und den Büchern, die sein Leben verändert haben.
Hamburg 1955 - der noch 14-jährige Uwe wird von seinem Vater, dem Inhaber eines Pelzgeschäfts, in die Kürschnerlehre gegeben. Im Takt der Stechuhren lernt der junge Mann die kreative Präzision, die das heute fast ausgestorbene Handwerk erfordert, schult den Blick für das Material, die Kundinnen, die Tücken und Geheimnisse dieser Kunst. Er lauscht den Geschichten der Kollegen, schließt Freundschaften, bekommt Bücher empfohlen, entdeckt die Stadt und den Jazz. Der Lehrling, der vom Schreiben träumt, liest heimlich im Sortierzimmer Salinger und Camus, begleitet den »roten Erik« auf die Reeperbahn, erkundet mit dem Kollegen Johnny-Look, reichlich schüchtern noch, die Liebe, wird von Meister Kruse politisch initiiert und streitet sich nun umso intensiver mit dem Vater über die NS-Zeit.
Inzwischen ist auf dem Pelzmarkt ein Preiskampf ausgebrochen, das Kürschnergeschäft der Familie floriert nicht mehr, und als der Vater plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt, muss der 18-Jährige ein völlig überschuldetes Geschäft sanieren. Die harte Arbeit und die großen Sorgen bringen ihn nicht ab von der Vorstellung eines ganz anderen Lebens.
Ein großartiges Hörbuch der Erinnerungen und des Aufbruchs, präzise und poetisch. Ein sprechendes Zeitbild, ein Initiationsroman der Liebe, des Lesens, des Arbeitens und Träumens.
Besprechung vom 14.09.2023
Wenn sich der Pelzmantel nicht mehr flicken lässt
Erzählen wie die Kürschner: Uwe Timms Erinnerungsbuch "Alle meine Geister"
Kurz vor seinem fünfzehnten Geburtstag absolviert Uwe Timm ein Vorstellungsgespräch beim Hamburger Pelzhändler Erich Levermann, einem Kollegen seines Vaters. Drei Jahre später, Timm hat die Lehre gerade mit Auszeichnung beendet, stirbt der Vater und hinterlässt der Familie ein hoch verschuldetes Geschäft. Der Achtzehnjährige bricht den gerade begonnenen Besuch des Abendgymnasiums ab und schafft es, gemeinsam mit der Mutter und seiner älteren Schwester, das geerbte Pelzgeschäft zu sanieren. Und geht schließlich nach Braunschweig, um dort sein Abitur nachzuholen.
So in etwa könnte man den Inhalt von "Alle meine Geister", Uwe Timms gerade erschienenem Erinnerungsband - eine Gattungsbezeichnung trägt das Werk nicht - zusammenfassen. Tatsächlich ist das Buch, dessen wesentliche Passagen in den Jahren zwischen 1955 und 1960 spielen, voller packender Schilderungen aus dieser Zeit - einige kennt man aus anderen Büchern des 1940 geborenen Autors, viele waren noch unerzählt. Timm berichtet ausführlich von seiner Kürschnerlehre in einer Stadt, der man den Krieg noch ansieht, auch wenn überall gebaut wird. Über das Geschäft seines Vaters schreibt er, es sei "im Kleinen, was im Großen zu hören war: Nachts trug der Westwind das Dröhnen der Niethämmer über die Stadt."
Der Krieg ist erst seit zehn Jahren vorbei, die Erinnerung omnipräsent, gerade angesichts des Willens vieler, die Jahre vor 1945 gründlich hinter sich zu lassen, während andere sich damit nicht abfinden wollen und dem Kürschnerlehrling von den Fehlern der Arbeiterklasse erzählen, die Hitler hätte verhindern können, wäre sie nur einig gewesen. Timm hört an seinem Arbeitsplatz von Kriegserlebnissen, bei denen die Erzähler nur knapp mit dem Leben davongekommen sind, begegnet Versehrten, Heimatvertriebenen oder solchen, die niemals über die Vergangenheit sprechen - die Kürschnerwerkstatt wird zum Mikrokosmos der Nachkriegsgesellschaft, und wie in den Spinnstuben des neunzehnten Jahrhunderts ist auch hier das gemeinschaftlich ausgeübte Handwerk mit dem Erzählen eng verwandt.
Den ersten Akzent setzt aber eine kurze Szene, die noch nichts mit der Lehre zu tun hat. Der Autor erinnert sich aus der Distanz von knapp achtzig Jahren an ein Märchenbuch, das ihm die Mutter vorgelesen hat, darin Bilder voller Leben: "Ein Wunderbuch. Auf den Papierseiten glänzt und blitzt es. Diamanten, sagt der Vater, aus der Schatztruhe von König Drosselbart." Das Kind sieht Bilder vom Aufbruch, vom "Däumling, der mit seinem Spazierstock, einer Stecknadel, durch den Schornstein mit dem Rauch in die weite Welt hinausgetragen wird", und der alt gewordene Autor ruft sich ein Gefühl in Erinnerung, mit dem er die vorlesende Mutter begleitete, "die Vorfreude auf das Umblättern."
Viel ist vom Aufbruch zu spüren in diesem Buch, viel von dem däumlingsgleichen Drängen des Jungen hinaus in die Welt. Dabei ist auch der spätere Autor immer präsent, der das eigene Gedächtnis erforscht und es bei aller Präzision auch lückenhaft findet, zugleich aber beim Schreiben und Erinnern geradezu bedrängt wird von Ereignissen und Personen. "Sie alle fordern ihre Namen, reiten mir nachts auf der Brust, oder wie jetzt, wenn ich den Kopf nach rechts drehe, da sagt einer: Mensch, sieh mich doch an, genau, wie heiße ich, und da, die Frau, die sich scheu zurückzieht, sagt, wenn du mich beim Namen nennst, komme ich." Auch die Toten melden sich, sie reden über das, was sie in der Nichtexistenz vermissen, Rotwein, Wärme, den Sand im Sommer, den Wind, den Regen.
Die andrängenden Gestalten erinnern nicht zufällig an Odysseus' Totenbeschwörung. Timms Buch ist durchsetzt mit literarischen Verweisen, diskreten oder direkten, und die Schilderung der Lektüre des jungen Mannes bildet einen gewichtigen Teil seiner Erzählung. Er liest Dostojewski und Camus, Hemingway und Puschkin, liest, was ihm in die Finger kommt und vermerkt dabei, wer ihn auf den jeweiligen Text aufmerksam gemacht hat, wie und warum. Daraus erwachsen wiederum kleine Porträts der Empfehlenden, Borgenden oder Schenkenden, und umgekehrt ist der Blick auf die Welt des besessen Lesenden erheblich von der Lektüre geprägt, die sich in diesem Moment seiner Entwicklung als die passende erweist.
Denn die Arbeit in der Kürschnerwerkstatt begünstigt offenbar das Lesen, während dem Lehrling zugleich die Herstellung von Pelzmänteln zur Metapher für das Erinnern, Erzählen und Schreiben wird: Einzelne Teile werden so zugeschnitten und miteinander vernäht, dass sie passen, als wären sie schon immer eins gewesen, und so wie man die Nähte auch auftrennen, die Stücke voneinander lösen und anders wieder verbinden kann, lassen sich auch Erinnerungen für eine kohärente Erzählung neu aufeinander abstimmen - der angehende Autor, so scheint es in diesem Buch, schult sich am Kürschnertisch.
"Getragene Mäntel verraten immer etwas über ihre Trägerinnen", heißt es einmal. Und wenn eine exilierte Russin im Hamburg der Fünfzigerjahre die Arbeit an ihrem alten Mantel aus Sankt Petersburg mit den Worten quittiert: "Eine vortreffliche Arbeit. Das Reparieren ist doch die eigentliche Kunst", dann weist das weit über die Welt der Pelze hinaus, in denen sich Erinnerungen manifestieren, wie Timm mit leichter Hand immer wieder beschreibt.
Nicht immer lässt sich das bewahren. Eine Zeit lang bekommt das Geschäft der Familie Timm Besuch von einer aus Ostpreußen vertriebenen Frau, die sich die Ausbesserung ihres mitgebrachten Pelzmantels wünscht und trotz höflicher Zurückweisung immer wieder kommt, sich Tee und Cognac geben lässt und von großen Plänen erzählt. Auf einem Truppenübungsplatz in der Heide sollen mehrere Kleinstädte für Vertriebene errichtet werden, die an die Welt der verlorenen Heimat erinnern. In dieser Sache schreibt sie auch alle möglichen Politiker an, offenbar ebenso erfolglos wie in ihren Bemühungen um den Pelz. "Das Leder ist so mürbe, dass kleine Streifen am Rücken herunterhängen, es sieht erbärmlich aus, sagte die Mutter. Aber ihr Auftreten ist königlich."
Die große Zeit der Kürschner ist vorbei, wenigstens für Timms Familie, an deren Geschäft irgendwann "Mörder" steht und das geschlossen wird. Literarisch aber trug dieses Handwerk noch nie so schöne Früchte wie in diesem fabelhaften Buch. TILMAN SPRECKELSEN
Uwe Timm: "Alle meine Geister". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 288 S., geb.
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