
Besprechung vom 03.12.2025
Unordnung und Leid
Julia Franck erteilt in Heidelberg Lektionen
Man soll nicht verallgemeinern. Aber eine Poetikdozentur erlebt man meistens entweder als eher unverbindliche literarische Spielerei, bei der man sich fragt, was sie mit dem, der sie abhält, überhaupt zu tun hat; oder als stark introspektive, subjektivistische Grübelei, die den Graben zwischen Ich und Publikum, den der Autor mit Einblicken in die eigene Produktion doch wohl ein wenig zu schließen gekommen war, eher noch vertieft und dabei einen hermetischen Eindruck hinterlässt. Es gibt natürlich noch ein Drittes, Viertes, Fünftes. Auf jeden Fall erwartet oder verspricht sich das Publikum so etwas wie "Einblicke in die Schreibwerkstatt", die gewissermaßen der Zweck dieser im deutschsprachigen Raum inzwischen weitverbreiterten Übung sind, der kleinste gemeinsame Nenner.
Julia Franck ging ihre dreiteilige Heidelberger Poetikdozentur einerseits mit offenem Visier, mit einer bisweilen fast sträflich wirkenden biographischen Offenheit an; andererseits redete sie rigoros gegen das sogenannte autofiktionale, gegen das Schreiben über lebende reale Personen an und plädierte für Diskretion. Der hieraus erwachsenden Spannung ist der Leser ausgesetzt in ihrer bisher jüngsten, autobiographisch tiefschürfenden Veröffentlichung "Welten auseinander" (2021), auf die sie immer wieder zu sprechen kam. Dort breitet sie eine Familiengeschichte aus, die es in sich hat, aber vor Bloßstellungen, zum Beispiel ihrer sehr auf ihre Freiheit bedachten, wenig fürsorglichen Mutter, haltmacht.
Franck stellte ihre Ausführungen unter den Dreisatz "Das Unbekannte - das Eigene - das Unerhörte" und präsentierte sich dabei selbst als Außenseiterin, deren Status sich nicht etwa aus ihren Meinungen oder einem Hang zum Querulantentum ergab, sondern direkt biographische Ursachen hat: Schon ihre Geburt war, wie es in Thomas Manns Moses-Erzählung "Das Gesetz" heißt, "unordentlich". Buchstäblich ungeschminkt, in geradezu radikaler Offenheit präsentierte sich Julia Franck als "uneheliches Kind aus dem Osten" (Berlin), das mit Mutter und Schwestern 1978 in den Westen geht - Keim ihres dritten Romans "Lagerfeuer" (2003). Dem kommunenhaft-bäuerlichen Leben in Schleswig-Holstein entkommt sie noch minderjährig und ist, trotz Unterkunft in einer Pflegefamilie, fortan so ziemlich auf sich allein gestellt. Ihr Vater wurde von seiner Mutter direkt nach dem Krieg an einem Bahnhof ausgesetzt wie ein Hund - das ist Thema der "Mittagsfrau", für die Franck 2007 den Deutschen Buchpreis bekam. Als sie selbst ihren Vater endlich kennenlernt, legt der sich gewissermaßen schon zum Sterben hin - ein Verlust, der in der Erzählung "Streuselschnecke" (2000) verarbeitet ist.
Davon und von anderem mehr berichtete Julia Franck in einem dermaßen geduldigen Duktus und mit so einnehmender Stimme, dass manche Monstrosität gewissermaßen weich fiel. Irgendwann fragte man sich, ob das alles nicht etwas viel für ein junges Mädchen, für eine junge Frau war, die aus einer durch "Dreck, Verlotterung und Bastardisches" geprägten Herkunft heraus Zuflucht fand in der Literatur und sich, mit nicht viel mehr als "Verwahrlosung und Lieblosigkeit" im Gepäck, putzend und kellnernd durchschlug, bis sie 1995 mit dem Triumph beim Berliner Open Mike mit der bezeichnend betitelten Erzählung "Die Wunde" durchbrach zum Literaturbetrieb, welcher der Isolierten und Einsamen, innerlich Stigmatisierten, als die sie sich immer noch fühlte, fremd und unwahrscheinlich erschien.
In geduldig mäandernden Bewegungen, ohne thesenhafte Zuspitzungen griff sie in die Literaturgeschichte aus, machte halt bei Goethes "Werther", bei Kleist, Keller und Kafka, dann bei Frisch, Bernhard und anderen, auch romanischen Autoren; vollzog die Entwicklung hin zum immer subjektiver werdenden Schreiben nach, das schließlich den Mut und die Stärke zum direkten "Bekenntnis erlittener Qualen" fand. Unaufdringlich wob sie die literarische Existenz, die sie selbst führt und zu der sie vom Nonkonformismus ihrer jüdischen Großmutter inspiriert wurde, hinein, eine Vor- so gut wie eine Vielleserin, gewappnet mit angenehm sprödem Skeptizismus, der nicht vereinnahmt werden kann.
Vielleicht noch ein persönlicher Eindruck: Dem Berichterstatter, der sie zum ersten Mal 2000 in Klagenfurt erlebt hat und dem sie damals wie eine coole, mit Anfechtungen und Härten noch nicht sonderlich vertraute junge Frau vorkam, ging in diesen drei poetischen Lektionen noch mal ein Licht auf. EDO REENTS
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.