Ein persönlicher Blick auf eine Epoche der Freiheit im Osten wie im Westen Europas. Glänzend erzählt.
Mit spielerischem Scharfsinn hilft uns Adam Soboczynski uns selbst ebenso zu verstehen wie diesen seltsamen Osten Europas. Er erzählt von seiner Jugend in der Bonner und dem Erwachsensein in der Berliner Republik, von der großen Freiheit zwischen den Jahren 1989 und 2022, und wie sie verloren zu gehen droht - in beiden Teilen Europas. Im Osten wird sie von außen bedroht, im Westen durch innere Kämpfe.
Adam Soboczynski zieht als Sechsjähriger aus Polen in die westdeutsche Provinz. Er verlässt mit seinen Eltern die Arbeitersiedlung einer polnischen Chemiefabrik und gelangt in ein fremdes Traumland voller Wunderwerke wie den Ford Capri, die große Trommel Chio Chips und Freiheit. Dass er in seiner neuen Heimat ganz angekommen ist, merkt er Jahre später, als er Deutschland genauso vermieft und unerträglich findet, wie es sich für einen echten Deutschen gehört. Sein Blick wandert immer wieder in den Osten Europas, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zur Blüte gelangt und bald schon wieder bedroht wird. Und wer hätte gedacht, dass sich auch die Freiheit im Westen in Gefahr befindet? Durch Trump und die AfD, aber auch durch die allgegenwärtige Empfindlichkeit der Aufklärungs- und Liberalismuskritiker. Ein heiteres, ein melancholisches, ein kluges und gegenwärtiges Buch.
Besprechung vom 23.09.2023
Die goldenen Jahrzehnte haben wir inzwischen hinter uns
Im Land der Befangenheit: Adam Soboczynski erzählt von seinem Leben und trauert der Zeit zwischen den Achtzigern und heute hinterher
Peter Rühmkorf könnte der Erste gewesen sein, 1975 erschien sein Essayband "Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich". Bekannter ist der De-Niro-Film "Meine Braut, ihr Vater und ich", außerdem gibt es "Frau Rettich, die Czerni und ich" sowie, aktuell im Kino, "Sophia, der Tod und ich". Und nun also auch, frisch im Buchhandel, "Traumland - Der Westen, der Osten und ich". Ein Untertitel, der dem bewährten Muster folgt und doch besonders anmaßend klingt: Der ganze Westen und der ganze Osten, das ist noch mal eine andere Hausnummer als Frau Rettich oder Klopstock.
Das Ich, das sich so selbstbewusst einreiht neben den beiden Himmelsrichtungen, die hier natürlich, wenn schon keine Systeme mehr, so doch Lebensmodelle meinen, gehört Adam Soboczynski, der seine Leser auch vom Cover anblickt - als so skeptisches wie adrett gekleidetes Kleinkind. Der enge Rollkragenpulli mit den zwei Streifen, die dunkle Hose mit den Vordertaschen: Auch Kinder im Westdeutschland der Siebziger und Achtziger wurden in solche schick gemeinten Klamotten gesteckt. Typischer noch dürfte jener Look für realsozialistische Länder gewesen sein, zum Beispiel für Soboczynskis Geburtsland Polen. Soboczynski, Jahrgang 1975 und Literaturchef der "Zeit", kennt - was den Buchuntertitel weniger vermessen wirken lässt - das Leben im Osten wie im Westen, sein publizistisches Ich hat sich schon 2006 in seinem Erinnerungsband "Polski Tango" als tragfähig erwiesen. Einige wenige besonders gelungene Sprachbilder daraus wie die "einsame" deutsche Grammatik seines Vaters hat er in sein neues Buch hinübergerettet, das den Bogen zeitlich, geographisch und gesellschaftlich aber viel weiter spannt.
Mit Soboczynskis Ich reisen die Leser aus dem polnischen Torun ins "viel beschworene Traumreich" Deutschland, das seiner Familie dank der mütterlichen deutschen Wurzeln zur neuen Heimat wird, als der Junge sechs Jahre alt ist. In Koblenz am Rhein arbeiten die Eltern, "materialistisch und rechtschaffen", emsig an ihrer geräuschlosen Integration, während der Sohn die Umgebung bald mit gymnasiastentypischer Arroganz betrachten wird als "besonders langweiligen, besonders hässlichen, besonders spießbürgerlichen Ort", gelegen in einem "besonders unattraktiven Land", mutmaßlich auf ewig regiert "von einem besonders unattraktiven und besonders dicken Kanzler".
Weitere Stationen nach Koblenz sind die Bonner Uni, Altbauwohnungen in Berlin, jener "kindisch-großartigen Stadt", und - Soboczynski ist Feuilletonist - Cafés in Paris und Wien. Auch nach Moskau geht es, wo der Autor vor allem "endzeitliche Leere" vorfindet. Das Kapitel, in dem Soboczynski und sein mitreisender Freund erst in einem Tolstoi-Museum merken, dass dieses nicht den großen Leo, sondern dessen entfernten Verwandten Alexej - einen finsteren Sowjet-Apparatschik - ehrt, ist von grotesker und erhellender Komik.
Und immer wieder geht es zurück nach Polen, das zu dem "versachlichten" Land, in welchem Soboczynski nun lebt, einen nach wie vor enormen Kontrast bildet - "auch wegen des stürmischen Geherzes und der Freudentränen, des lauten Geschnatters bis in die Nacht, der Papstfolklore und der Rauchschwaden an einem mit Wodkaflaschen zugestellten Abendtisch". Den Patriotismus nicht zu vergessen: Wo Polen ein "Land des Stolzes" ist, zeigt sich das mit seiner dunklen Geschichte hadernde Deutschland als "Land der Befangenheit". Und als eines, das eine "sehr rührselige Verbundenheit zu den Russen" pflegt und die Polen, die damit so gar nichts anfangen können, viel zu lange "als Hysteriker verlacht" hat. Touché, gar keine Frage.
Soboczynski braucht nicht viel Platz für große Thesen, er schreibt leicht, prägnant, elegant und unterhaltsam sowie mit dem Mut zur Verallgemeinerung. "Die Deutschen" - genauer: die Westdeutschen - sind für ihn Leute, die sich durch die traditionsbewussten polnischen oder türkischen Einwanderer "an die konservativen Gründerjahre der Republik" erinnert fühlen, derweil sie selbst "an der Überwindung der Geschlechtergrenzen, der Nation, der Kleiderordnung und des generischen Maskulinums" arbeiten und darauf setzen, dass sich der Rest der Welt von ihren westlichen Werten anstecken lässt. Das linksliberale Bildungsbürgertum, das Soboczynski auch in seinem Brotberuf bedient, dürfte sich darin wiedererkennen, doch was ist mit dem Rest? Die deutsche Ignoranz gegenüber polnischen Literaten wie Wislawa Szymborska, Czeslaw Milosz und Boleslaw Prus beklagt der Autor mit Recht, doch wenn er dies kontrastiert damit, dass "man" dafür Sartre, Flaubert und Françoise Sagan kenne, so beschreibt er wiederum sein eigenes, mutmaßlich schrumpfendes Milieu. Die deutsche Bildungsmisere könnte hier über kurz oder lang für ausgleichende Ost-West-Gerechtigkeit sorgen.
An entscheidender Stelle wird Soboczynskis Ich dann zum Wir. Nämlich dann, wenn er sein "Traumland" oder "Traumschloss" beschreibt, und zwar den westlichen Liberalismus in seiner schönsten Blüte von den Achtzigerjahren bis kurz vor heute. "Wir lebten in Jahren der Freiheit", schreibt Soboczynski, nämlich frei "von weltanschaulicher Verbissenheit" in einem Land, das "weniger dumpf war als gewohnt" und - "Unser Fernsehstar war Harald Schmidt" - nichts mehr ernst nahm, weil es nichts ernst nehmen musste. Diese Nostalgie mag ein wenig generationgolfig klingen, fußt aber auf der klarsichtigen und bitteren Ahnung, dass es sich bei den goldenen Jahrzehnten um ein recht schmales Zeitfenster handelte, das sich mit plötzlichem Knall geschlossen hat. Diese "beste aller möglichen Welten" zu wenig wertgeschätzt haben, das wirft Soboczynski sich, uns, dem Westen vor. Dessen Feinde reden ihn schließlich ohnehin ständig schlecht, das muss er nicht auch noch selbst übernehmen. JÖRG THOMANN
Adam Soboczynski: "Traumland". Der Westen, der Osten und ich.
Klett-Cotta, Stuttgart 2023. 176 S., geb.
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