Rom, 1939. Alessandra wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Ihre Mutter - ein außergewöhnliches Klaviertalent - wird vom Ehemann ständig in ihre Schranken verwiesen, und so wird Alessandra früh eingebläut, welche Rolle für Frauen vorgesehen ist. Nach dem plötzlichen Tod der Mutter wird sie vom Vater in ein Dorf in den Abruzzen geschickt, wo sie lernen soll, sich zu fügen. Doch Alessandra ist ein freier Geist, sie politisiert sich und fordert nichts weniger als die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Als sie zurück in Rom den antifaschistischen Philosophen Francesco kennenlernt, scheint sie endlich am richtigen Ort angelangt zu sein. Doch es wird ihr viel zu spät klar, was ihr für die ersehnte Freiheit abverlangt werden wird.
Dieser radikal »aus ihrer Sicht« erzählte Roman ist die Geschichte einer großen Liebe und eines Verbrechens. In einem von Faschismus und dem Patriarchat beherrschten Italien entspinnt sich das intime und hochpolitische Schicksal einer Frau, die das Unmögliche möglich macht: Resignation in Rebellion zu verwandeln.
Besprechung vom 19.10.2023
Unsere Freiheit endet nur Stunden nach der Geburt
Ein Klassiker der emanzipativen Literatur: "Aus ihrer Sicht" von Alba de Céspedes in Neuübersetzung
Elena Ferrantes Romanzyklus "Meine geniale Freundin" hat einen großen Vorläufer: "Aus ihrer Sicht". Dieser 1949 erschienene Roman von Alba de Céspedes (1911 bis 1997) verhandelt vergleichbare Themen, vorneweg die heikle Stellung der Frau im modernen Italien gerade in einem Szenario sozialen Aufstiegs, das Selbstverwirklichung verheißt. Und auch wenn der Fokus bei Cespédes nicht auf Freundschaft liegt, spielt sie fürs Verhältnis der Heldin Alessandra und ihrer Bekannten Fulvia eine zentrale Rolle. Cespédes hat einen verkannten modernen Klassiker geschrieben, der auf den Ehebruchroman des neunzehnten Jahrhunderts konsequent antwortet. Man hofft, dass die schöne Neuübersetzung von Karen Krieger (die erste seit den Fünfzigerjahren) ihn den deutschen Lesern nahebringen wird.
"Aus ihrer Sicht" präsentiert die Perspektive der jungen Römerin Alessandra in den biographischen Schlüsseljahren zwischen sechzehn und Anfang zwanzig; diese fallen zusammen mit dem Ende des Faschismus und der Befreiung von deutscher Besatzung. Von Alessandra wird in drei Blöcken berichtet: Teil eins erzählt die außereheliche, tragische endende Liebe ihrer Mutter, einer begabten Pianistin, zu dem reichen Exzentriker Hervey Pierce. In Teil zwei wird Alexandra in die Heimat ihres Vaters geschickt, um eine klassische Frauenrolle zu erlernen; allerdings findet sie ihren Platz in dem Abruzzendorf nicht. Der dritte und längste Teil schließlich erzählt anfangs, wie die nach Rom zurückgekehrte Alessandra ihren erblindenden Vater versorgt und Kunstgeschichte studiert. Im Zentrum steht jedoch ihre Liebe zu Francesco, einem Dozenten der Rechtsgeschichte aus gutem Hause, der in den Widerstand geht und eine Politikerkarriere beginnt, während Alessandra in eine Hausfrauenrolle gedrängt wird. Céspedes lässt diese Liebe den Realitätstest Ehe durchlaufen. Ergebnis: nicht bestanden.
Seine Kraft zieht "Aus ihrer Sicht" aus mehreren Quellen. Schwer wiegt die Darstellung der bleiernen Faschismusjahre, eindrücklich kondensiert in jener Stimme, die aus dem Radio schallt - Mussolinis Name fällt nicht, aber die Dinge sind klar. Packend sind die Milieuschilderungen des römischen Kleinbürgertums, das Alessandras Vater, ein Beamter, aufs Widerwärtigste inkarniert, und die des Mietshauses mit seiner Innenhofgemeinschaft (Wahrsagerin inklusive). Die ländliche Großfamilie wird als zwiespältiges Korsett - sowohl Stütze als auch Gefängnis - treffend porträtiert, ebenso die Facetten der Mädchenfreundschaft zwischen Spiegel, Konkurrenz und Attraktion.
Besonders jedoch findet Céspedes' Hauptimpetus, das komplexe Verhältnis von Mann und Frau zu beschreiben, meisterhafte Umsetzung: Es gelingt ihr, hochfliegende Erwartung und schleichende Enttäuschung in ein teils krasses, teils subtiles Spannungsverhältnis zu setzen, die Säure des Alltags auf Ideale zu schütten und deren Zersetzung mit reiner Lupe zu beobachten. Die Mutter bringt es auf den Punkt: "Kein Mensch ist frei, niemand ist frei. Unsere Freiheit endet wenige Stunden nach unserer Geburt, wenn man uns einen Namen überstülpt und uns in eine Familie zwängt. Dann können wir nicht mehr entkommen, uns nicht mehr losreißen, nicht mehr wirklich frei sein. Das große Standesamtsgebäude ist unser Gefängnis." Fürs weibliche Geschlecht gilt das doppelt, in der Ehe wird es zum Objekt; Céspedes stellt die bis ins Ehebett geltende Gehorsamspflicht an den Pranger.
Weibliche Verzweiflung setzt Céspedes durch Gesten motivisch ins Bild, hier die einer namenlosen Bäuerin: "Ihre Ärmel waren hochgekrempelt und die Unterarme so muskulös wie die eines jungen Mannes. Ihre Hände, die den weichen Teig bearbeiteten, verrieten einen gewalttätigen Impuls, der sich in dieser Tätigkeit entlud. Plötzlich fiel mir wieder ein, wie erbittert Sista das Bügeleisen auf das Hemd meines Vaters gepresst hatte." Der Unterwerfung setzen Alessandra und ihre Mutter radikal romantische Liebe entgegen, gefasst im ambivalenten Motiv einer Liebenden, welche die Treppe hinuntereilt.
Die Kompromisslosigkeit der Mutter sorgt dafür, dass sie der Tochter zur "poetischen Legende" wird. Nicht umsonst ist die Pianistin eifrige Leserin von Flauberts "Madame Bovary": Wie Emma träumt sie von einer romanhaften Existenz. Ganz anders Alessandra: Mit Flaubert kann sie nichts anfangen. Als ihr zuerst so einfühlsamer Mann ihr signalisiert, dass ein Engagement im Widerstand, ja allgemein öffentliches Wirken von Frauen unangebracht sei, will sie ihm das Gegenteil beweisen. Heimlich und gegen seinen Willen schmuggelt sie Flugblätter, später Bomben. Als sie einsehen muss, dass selbst der verständnisvolle Intellektuelle sie zu Heim und Herd verurteilt, greift sie zur Pistole. Wo das neunzehnte Jahrhundert Ehebruch und Tod der Frau setzte, wird im zwanzigsten der Ehemann ausgeräumt.
Alba de Céspedes, Tochter von Carlos Manuel de Céspedes y Quesada (kubanischer Präsident im Jahr 1933) und einer Italienerin, führt ihren Roman mit radikaler Konsequenz zu Ende - schon dafür verdient sie Bewunderung. Allerdings enthält "Aus ihrer Sicht" Inkonsequenzen. Man fragt sich, warum Emanzipation und romantische Liebe unbedingt gekoppelt sein müssen - und ob nicht gerade das zu beider Scheitern führt. Die Abruzzen-Großmutter etwa bietet Alessandra Frauenherrschaft, die aber ohne Liebe auskommen muss, wie Barbara Vinken in ihrem Nachwort betont. Was sie nicht erwähnt, ist, dass Céspedes daraus Probleme entstehen, in die auch Ferrante sich verheddert: Erstens knüpft sie das weibliche Selbstbild an einen intimen liebeszentrierten Existenzentwurf, der paradoxerweise verlangt, in einer männlich dominierten Öffentlichkeit anerkannt zu werden. Zweitens hat dieser Entwurf einen Hang zum Kitsch. Drittens stellt sich die Frage, ob Alessandras Ansprüche nicht wie jene von Emma Bovary schlicht überzogen sind, ob das Problem also weniger bei misogynen Männern und den von ihnen geprägten Institutionen als vielmehr in der Unzulänglichkeit des Lebens zu suchen wäre.
Céspedes muss blind für derartige Überlegungen gewesen sein; das legt auch ihr Nachwort zur Neuauflage von 1994 nahe, in dem sie als Anhängerin Fidel Castros - Kubas "edler, aufrechter Führer" - ungebrochen Revolutionsideale vertritt und die Amerikaner beschimpft, an die Italien 1945 seine Unabhängigkeit verloren habe. Idealistische Maßlosigkeit kennzeichnen Céspedes' Ansprüche - politisch und existenziell heikel, ästhetisch meist lohnend. NIKLAS BENDER
Alba de Céspedes: "Aus ihrer Sicht". Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Nachwort von Barbara Vinken. Insel Verlag, Berlin 2023. 638 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.