1968: Teo, eine junge Laotin, kommt am Berliner Ostbahnhof an. Es ist die Liebe, die sie in die DDR führt, weit weg von ihrer Familie. Doch ihr neues Leben in Potsdam, scheinbar ein sozialistisches Idyll, ist schwer, und auch perfektes Deutsch kommt gegen die Fremdheit, die man sie als Asiatin jeden Tag spüren lässt, nicht an. Weihnachten 1982: André, Teos Sohn, ist zwölf und wünscht sich nur eines: den Schikanen seiner Lehrerin entgehen und möglichst nicht auffallen, was nicht so einfach ist als halblaotischer DDR-Bürger mit einem behinderten jüngeren Bruder. Trotzdem ist eigentlich alles ganz schön, solange seine Mutter nicht wieder krank wird, solange sein Bruder nicht ausrastet, solange die Mutter und die Großmutter sich vertragen. Doch dann erschüttern mehrere Schicksalsschläge die Familie.
«Nostalgia», André Kubiczeks vielleicht persönlichstes Buch, handelt von seiner Beziehung zur Mutter, die versuchte, in der Fremde eine Heimat zu finden. Dabei entsteht ein etwas anderes Bild vom Leben in der DDR - aus der Perspektive einer binationalen Familie, die im Alltag anzukommen versucht. Ein Roman, der einfühlsam und voller Wärme von Vertrautheit, Fremdsein und Liebe über Kulturen und Vorurteile hinweg erzählt.
Besprechung vom 30.07.2024
Einsturz aller Ordnungen
Laotische Komponente einer deutschen Konstellation: André Kubiczek erzählt in "Nostalgia" seine Familiengeschichte als Roman
Bekannt wurde der 1969 in Potsdam geborene Schriftsteller André Kubiczek vor zwanzig Jahren mit Büchern wie "Die Guten und die Bösen", einem verwilderten Berlin-Roman, der sich als kantiges Gegenstück zur Erfolgskomödie "Good Bye, Lenin!" lesen ließ, zum Kino der gesamtdeutschen Rührung und Versöhnung. Danach widmete er sich in Romanen wie "Skizze eines Sommers" oder "Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn" dem Aufwachsen in der niedergehenden DDR und den Spannungen in einer bikulturell geprägten Familie - eine literarische Erinnerungsarbeit, die er nun in "Nostalgia" mit verstärkter Intensität fortsetzt.
Im Zentrum dieses autobiographischen Romans steht die Figur der Mutter, Khemkham Kubiczek. 1968 wandert die junge Frau aus Laos in die geschlossene Gesellschaft der DDR ein. Sie hat ihren Mann beim Studium in Moskau kennengelernt. Auch wenn der Internationalismus groß geschrieben wird in der DDR - abschätzige Blicke muss sie ertragen lernen unter den Ostdeutschen. Sie bleibt eine Frau zwischen zwei Welten. Ihr Vater war kurzfristig Außenminister des Königreichs Laos, bis er von seiner eigenen Leibgarde ermordet wurde. Schon aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung missbilligt die laotische Familie die Beziehung mit einem deutschen Arbeitersohn und schickt der Mutter vietnamesische Spione auf den Hals. Der Arbeitersohn wiederum, der sich auf den diplomatischen Dienst vorbereitet und deshalb zu besonders staatstreuem Verhalten verpflichtet ist, erregt bei der Stasi Verdacht wegen seiner Liebe zu einer Frau aus dem reaktionären Königreich Laos. Dass das junge Paar überraschend schnell einen Telefonanschluss bekommt, liegt nur daran, weil man sie dann besser abhören kann.
1975 wird in Laos die Monarchie gestürzt und eine kommunistische Regierung installiert. Plötzlich öffnet sich im Zeichen der sozialistischen Bruderschaft für Khemkham die Tür zu einer akademischen Karriere in der DDR, und sie ist gefragt als Übersetzerin, wenn Delegationen aus ihrer Heimat kommen. Dann entstehen staatstragende Fotos für das Familienalbum, die sie mit Erich Honecker in weißen Kitteln und Gummistiefeln bei der Besichtigung einer VEB-Melkanlage zeigen.
Weil der Roman aus der Perspektive des 1969 geborenen Sohns André geschrieben ist, erleben wir bei der Lektüre allerdings zunächst den realsozialistischen Schulalltag in Potsdam-Waldstadt II und erhalten Einblicke in die Popsozialisation eines Ostjugendlichen, der heimische musikalische Gewächse wie die Puhdys nicht ausstehen kann und lieber Hitparadenmaterial aus dem Westen auf seinen Cassettenrecorder schmuggelt. In der Schule bekommt André manchmal "Schlitzauge"-Rufe zu hören. Immerhin gibt es eine Lehrerin, die die Mitschüler zurechtweist. Sie sollen ihn nicht hänseln "bloß weil er ein Mischling ist. Kein Mensch kann etwas für sein Aussehen. Es ist nicht seine Schuld, dass er anders ist als ihr, habt ihr das verstanden?" Das ist gut gemeint, auch wenn es die heutige Korrektheit um Längen verfehlt. Aber darum geht es André Kubiczek nicht. Ihm geht es um historische Korrektheit, auch bei der Thematisierung des untergründigen Rassismus in der DDR.
Und dann ist Weihnachten 1981, und mit großer Ausführlichkeit wird erzählt, wie der Junge seine Großeltern aus dem Harz vom Bahnhof abholt und es im Verlauf der Feiertage nicht nur Freuden, sondern auch Streit gibt. Der Großvater war immer schon ein bisschen schwierig, auch politisch. Er hat sich als waschechter Proletarier am Aufstand von 1953 beteiligt, was für Andrés Vater eine peinliche Familienerinnerung ist: "Er schämte sich, dass sein Vater Teil des gewalttätigen Mobs aus alten Nazis, jungen Faschisten und ordinären Randalierern war, der die junge sozialistische Ordnung zum Einsturz bringen wollte." Später hat sich der Großvater offenbar mit den Verhältnissen arrangiert, mit viel Bier und Zigaretten, weshalb der Junge ihn als schlimm hustenden, etwas verwirrten und bereits der Fürsorge der Großmutter bedürftigen Alten erlebt, obwohl er erst Anfang sechzig ist.
Die sehr breit ausgerollte "Nostalgia" dieser Passagen erscheint bald jedoch in ganz anderem Licht: Hier wird eine noch halbwegs heile Familienwelt kurz vor der Abbruchkante in Szene gesetzt. Denn am Ende dieser Ferien setzt bei Andrés Mutter ein fürchterliches Siechtum ein. Sie ist unheilbar an Krebs erkrankt; dazu kommen missglückte Operationen. Für André ist die Leichtigkeit der Jugend dahin. Es schaudert ihn, wenn er die Beutel ihres künstlichen Darmausgangs entsorgen muss, obwohl eine Helferin die Sicherheit des Materials rühmt: "Da läuft nichts aus. Die Beutel sind aus dem Westen und haben ein Ventil." Das ganze Leben war damals durchwirkt von der Konkurrenz der Systeme, und so finden sich in diesem Roman Ost-West-Motive auch dort, wo man sie nicht vermutet.
Andrés ein Jahr jüngerer Bruder Alain leidet ebenfalls an einer schweren Krankheit, einer sich von Jahr zu Jahr verschlimmernden geistigen Behinderung. Irgendwann büßt er wegen seines unstillbaren Appetits auf Süßes auch die gewisse liebenswerte Niedlichkeit ein und wird von den Menschen nur noch als Zumutung empfunden. Hier ist der Bruderblick erbarmungslos, weil mitbetroffen. Vor seiner ersten Freundin verleugnet André den Bruder und bringt sich damit in ein unlösbares Dilemma.
Ein formales Problem des Romans besteht darin, dass die Vorgeschichte der Mutter nur schlecht durch die Perspektive des Sohnes vermittelt werden kann. Deshalb wechselt der Roman mehrfach in die Gedankenwelt der Mutter, was erzähltechnisch inkonsequent wirkt, aber inhaltlich erheblichen Zugewinn bringt. Ihre Sehnsucht nach der laotischen Herkunftswelt und das Fremdheitsgefühl in der DDR, wo es nur faden Kochbeutelreis gibt, werden immer größer. Ein starkes Kapitel erzählt eindringlich von der letzten Reise der Todkranken zur Familie nach Laos.
"Nostalgia" hätte zwar einige Straffungen vertragen, überzeugt aber durch große Authentizität und Ehrlichkeit. Der Roman lebt von den atmosphärischen Details, auch wenn die Umbrüche nach dem Mauerfall beschrieben werden. Die Tragik wird mit einem leichten, bisweilen gewitzten Ton kontrastiert. Erinnerungsschwere Familienromane mit DDR-Hintergrund gibt es inzwischen viele, aber durch die ungewöhnliche laotische Komponente bricht "Nostalgia" aus dem Gewohnten aus. Noch nie ist André Kubiczek den biographischen Leidensschichten, die sein Schreiben bestimmen, so nahe gekommen wie in diesem Buch, das er am Ende dessen beiden früh verstorbenen Hauptfiguren widmet: seiner Mutter Khemkham, die nur vierzig, und seinem Bruder Alain, der nur siebzehn Jahre alt wurde. WOLFGANG SCHNEIDER
André Kubiczek:
"Nostalgia". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2024.
400 S., geb.
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