Als Sechsjähriger soll Hokusai sein erstes Bild gemalt haben, und ein Jahr nach seinem Tod mit 89 Jahren erschienen posthum seine letzten Buchillustrationen. Dieses Buch zeichnet die lange und ertragreiche Karriere des Künstlers in all seinen Schaffensphasen nach: von den Schauspielerporträts, mit denen alles begann, bis zu den 1. 300 Bildern, die Hokusai in seinen letzten Jahren unter dem Namen Manji entwarf.
Mit Abbildungen von 746 Holzschnitten, Malereien, Skizzen und Buchillustrationen in vielfach faszinierendem Detailreichtum ist dieser Band die mit Abstand umfangreichste Publikation über Japans wohl bekanntesten Künstler. Hokusais enorme Anziehungskraft als Lichtgestalt der Edo-Zeit ist bis heute ungebrochen: Im März 2023 wurde ein Abzug seines weltberühmten Holzschnitts Unter der Welle im Meer vor Kanagawa (alias Die große Welle) aus der Serie Sechsunddreißig Ansichten des Berges Fuji für 2, 76 Millionen US-Dollar versteigert.
Diese Monografie blickt weit über Die große Welle hinaus und zeigt sowohl vertraute als auch weniger bekannte, selten abgedruckte Kunstwerke. Unter dem Titel The (almost) complete Hokusai präsentiert sie eine unübertroffene Vielfalt von Themen und Techniken: Landschaften wie den Kirifuri-Wasserfall neben großformatige Karten von den Überlandstraßen T_kaid_ und Kisokaid_ oder von der Halbinsel B_s_; doppelseitige Abbildungen aus illustrierten Büchern, darunter sinnliche, fantasievolle Erotik (shunga) und Zeichenanleitungen wie die fünfzehnbändigen Hokusai manga; und schließlich Tierdarstellungen wie etwa Holzschnittserien zum Thema Vögel und Blumen oder späte Rollbilder auf Seide von Enten im fließenden Wasser oder einem schwebenden Tiger im Schnee.
In einer beispiellosen Kampagne wurden Kunstwerke aus über 100 Institutionen weltweit für dieses Buch neu fotografiert - neben Werken aus Museen und Sammlungen in Europa, den USA und Japan auch eine bis heute erhaltene Tafelmalerei von einer Wildschweinjagd am Fuße des Fuji aus dem Hiei-Schrein in Kisarazu.
Die begleitenden Texte von Andreas Marks ordnen die Werke in ihren historischen Kontext ein und untersuchen den Einfluss, den Hokusai auf westliche Künstler wie Degas oder Gauguin ausübte, obwohl er selbst Japan nie verließ. In einer Mischung aus gründlicher Recherche zur Echtheit der Arbeiten Hokusais und extragroßen Reproduktionen, darunter vier Ausklapptafeln, ist The (almost) complete Hokusai ein optisches Feuerwerk der Kunst im edozeitlichen Japan und eine herausragende Monografie von wissenschaftlicher Tragweite.
Besprechung vom 16.11.2024
Die zweite Welle
Der japanische Künstler Hokusai ist mit einem Bruchteil seines Werks weltweit bekannt geworden. Ein Prachtband zeigt ihn nun von anderen Seiten.
Shunro macht den Anfang, es folgen Sori, Hokusai, Taito, Iitsu und schließlich Manji - die Liste ist nicht vollständig, umfasst aber doch die wichtigsten Namen, unter denen sich jener Künstler in verschiedenen Phasen seines Lebens der Öffentlichkeit präsentierte, den wir meist mit dem Namen Hokusai bezeichnen. Weit mehr als zehntausend Arbeiten werden ihm bisweilen zugeschrieben, an die fünfzig Schüler sind bekannt, die bei ihm lernten, seinen Stil zu kopieren, in der Werkstatt zum Erfolg der Marke Hokusai beizutragen und den Markt mit Arbeiten zu überschwemmen, zumal nach der erzwungenen Öffnung Japans zum Westen hin besonders dort der Hunger nach Bildern aus dieser Quelle gewaltig war.
Natürlich sind die Grenzen auch nach der anderen Seite hin unscharf zu ziehen: Nicht nur ist die Signatur des Meisters kein Garant dafür, dass ein Werk tatsächlich von seiner Hand stammt; manches, das diese Signatur eben nicht trägt, mag dennoch von ihm rühren, schließlich durchlief auch er in seinen Anfängen als Achtzehnjähriger eine Ausbildung in einer entsprechenden Werkstatt. Der 1760 geborene Sohn eines Spiegelpoliers wurde Schüler eines Holzschnittmeisters und bildete zunächst Schauspieler ab, bevor er zum Illustrieren von Büchern herangezogen wurde. Dabei arbeitete er sich zu besseren Adressen hoch, schuf Tableaus und hochformatige Drucke, die als Wandschmuck dienten. Es entstanden geschickt inszenierte kleine Szenen mit wenigen Akteuren ebenso wie großartige Panoramen mit einer Vielzahl von Nebenhandlungen.
Hokusais Striche werden in der Folge kräftiger und gewinnen individuelle Züge. Er interessiert sich offenkundig für Grotesken, nicht nur in den Illustrationen zu thematisch einschlägigen Texten mit Dämonen und Gespenstern, und auch die porträtierten Schauspieler weisen Züge auf, die sich von den glatten Arbeiten der Frühzeit deutlich unterscheiden. Vor allem aber findet er Gefallen an der Darstellung von Landschaften, die tatsächlich sein bei uns besonders bekanntes Spätwerk dominieren.
Nun versammelt ein prächtiger Band im Taschen-Verlag einen gewaltigen Teil seines Werks (722 Seiten, 175 Euro) - achthundert der hier etwa 7200 als echt identifizierten Bilder Hokusais. Das Ziel des Herausgebers Andreas Marks, das gängige Hokusai-Bild zu hinterfragen und ihm ein differenzierteres entgegenzusetzen, ist auf jeder Seite dieser ungeheuren Monographie sichtbar: punktuell, wenn etwa dem ikonischen und zu astronomischen Preisen gehandelten Bild der "Großen Welle vor Kanagawa" von 1831 ein anderes, das wohl 1802 bis 1804 entstandene "Bild von Lieferschnellbooten in den Wellen" gegenübersteht, und auch im größeren Rahmen, wenn etwa die Malerei des Künstlers, dessen Holzschnitte sonst in unserer Wahrnehmung das übrige Werk in den Hintergrund drängen, hier breiten Raum erhält. TILMAN SPRECKELSEN
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