Leipzig im 18. Jahrhundert, in seiner glänzendsten Zeit. Von den Messen tragen die Händler nicht nur Waren, sondern auch Ideen nach ganz Europa. Johann Sebastian Bach vermisst das Universum in Tönen, unterstützt von seiner Frau, der Kammersängerin Anna Magdalena, und seiner ältesten Tochter Dorothea. Derweil erforscht das Ehepaar Gottsched die deutsche Sprache und verbreitet unermüdlich das Licht der Aufklärung. Empört über die Biographie, die Johann Christoph Gottsched nach dem frühen Tod seiner Frau Luise veröffentlicht, beschließt Dorothea Bach, ihre eigenen Erinnerungen zu Papier zu bringen. Es war doch alles ganz anders mit Voltaire, Lessing und dem jungen Goethe! Schließlich leben wir im Zeitalter des hochgelahrten Frauenzimmers!
Leichthändig und heiter zeichnet Angela Steidele in ihrem Roman ein gewitztes Porträt der Aufklärung aus Frauensicht. Mitreißend erzählt sie von Musikern und Buchdruckern, Dichterinnen und Schauspielerinnen, von Turbulenzen des Geistes, wissenschaftlichen Höhenflügen und von der Weltweisheit in der Musik. Historisch versiert, unsere Gegenwart im Blick, schildert sie Schicksalsjahre einer Epoche, in der es kurz möglich schien, Frauen und Männer könnten gemeinsam die Welt zur Vernunft bringen.
Besprechung vom 15.12.2022
Jauchzet, frohlocket über dieses Buch
Angela Steideles Roman "Aufklärung" macht seinem Titel alle Ehre. Er erzählt auf ebenso inspirierende wie witzige Weise über das Leipzig der Bach-Zeit.
Überall wird derzeit Bachs Weihnachtsoratorium gespielt, aber nirgendwo so wie an dem Ort, für den es 1734 geschrieben wurde: in der Thomaskirche von Leipzig, wo Bach als Kantor wirkte. Unter seinem aktuellen Nachfolger Andreas Reize singt man dort zu Beginn derzeit nicht "Jauchzet, frohlocket! Auf, preiset die Tage", sondern "Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!". So lautet der Text in der Königin-Kantate, BWV 214, von Bach im Jahr zuvor komponiert und dann für den ersten Teil des Weihnachtsoratoriums als Musik wiederverwendet, aber textlich verändert: Aus einer weltlichen, nur zu einmaligem Gebrauch (Kurfürstinnengeburtstag) gedachten Kantate wird eine geistliche, die in jedes Kirchenjahr passt. Und also heute noch immer.
Reize begründet seinen Rückgriff auf den Ursprungstext nicht mit Originalitätssucht, sondern musikalisch: Malt der Text nicht in Worten aus, was wir hören? Aber ist das eine musikalische Kategorie? Hätte Reize den neuen Roman von Angela Steidele gelesen, hätte er sich die Sache womöglich noch einmal überlegt. Und dazu wäre gar nicht die Lektüre aller sechshundert Seiten nötig gewesen, sondern es hätte gereicht, bis zur Seite 52 zu kommen. Da befinden wir uns in der Leipziger Wohnung Johann Sebastian Bachs. Es ist kurz vor Weihnachten 1734, und der Hausherr probiert mit seinen Familienangehörigen den neuen Text auf die alte Musik, wie wir aus dem Munde seiner ältesten Tochter erfahren: "Papa spielte, und wir sangen das Zwischenstück. 'Dienet dem Höchsten mit herrlichen Chören.' 'Die Koloraturen immer auf ö, ja, das ist klangschön, ö ist immer gut zu singen. Schön obertönig.' 'Sie hat die Chöre dazuerfunden, weil die Pauken und die Trompeten nicht mehr im Text selber vorkommen, sondern nur noch im Orchester. Aber so ist das Gotteslob durch Musik doch wieder drin.'"
Wer aber ist "sie", die da von den Bachs als Textdichterin gelobt wird? Bis heute weiß doch niemand, wer den Text fürs Weihnachtsoratorium geschrieben hat. Ein Roman aber kann sich darüber hinwegsetzen und Gewissheit simulieren: Es ist Luise Gottsched, und wenn Sie diesen Namen noch nie gehört haben sollten, sagt das einiges über die geschlechterungerechte Überlieferungslage der Literaturgeschichte aus. Und über unser Verständnis jener Epoche, die wir heute "Aufklärung" nennen.
So heißt auch Steideles Roman: "Aufklärung". Und fürwahr: Selten war ein Titel passender. Denn erst einmal spielt er zur Zeit der Aufklärung, und dann klärt er uns auf. Nicht nur über den Rang jener Luise Gottsched, der Gattin des heute zwar auch nicht mehr in aller Munde, aber immerhin noch in einigen Köpfen präsenten Johann Christoph Gottsched, der seinerzeit der einflussreichste deutsche Sprachwissenschaftler war und in Leipzig lehrte. Und mit Bach so gut bekannt war, dass er ihm ein paar Kantatentexte schrieb. Aber offenbar nicht die fürs Weihnachtsoratorium.
Seine Frau wäre dagegen in der Tat eine gute Option gewesen, denn die Gottschedin war unter ihrem Mädchennamen Kulmus bereits eine Autorin eigenen Rechts - und eine Liebhaberin der bachschen Musik. Wie sich in Steideles intellektuellem Stadtporträt - und genau das ist "Aufklärung": ein Hymnus auf Leipzig als Versammlungsstätte einiger der besten Köpfe des mittleren achtzehnten Jahrhunderts - so manche Frau plötzlich im Mittelpunkt des Geschehens wiederfindet, allen voran die Icherzählerin, jene 1708 geborene Dorothea Bach, über die nicht mehr bekannt ist als ein Satz ihres Vaters aus einem Brief von 1730, wonach seine "itzige Frau" (Dorotheas Stiefmutter Anna Magdalena Bach) einen "sauberen Sopran" singe und "auch meine älteste Tochter nicht schlimm einschläget".
Doch was hat Angela Steidele aus diesem einen Satz gemacht! Wie gesagt, ein ganzes Stadtporträt aus der Sicht von Dorothea Bach. Und mehr als das: ein Epochenporträt, gegründet auf dem revolutionären Geist der bachschen Musik. Der hier befeuert wird durch die Leipziger Umgebung, allen voran Frau und Tochter, die als begabte Sängerinnen ihren eigenen Blick auf die Kompositionen haben. "Aufklärung" ist gerade in den imaginierten Dialogen ein Konversationsstück ganz im Stil jener Zeit. Aber eines, das man liest, als unterhielten sich da unsere Zeitgenossinnen. Die Romanfiguren Dorothea, Anna Magdalena und vor allem Luise sind unvergesslich. Auch unvergesslich witzig.
Denn die Männer treten mit der Ausnahme des ständig überlasteten Bach als Gockel auf, die ohne die Unterstützung und oft genug auch Zuarbeit ihrer Frauen gar keine geistigen Höhenflüge hätten antreten können. Sie katzbuckeln vor den Mächtigen, allen voran dem preußischen König Friedrich II., der von Steidele als skrupelloser Ästhet gezeichnet wird - eine Karikatur mit leider nur allzu realistischen Zügen. In dieses Buch ist eine Recherchefülle eingegangen, die man jederzeit spürt, jedoch nicht als bildungsbeflissenes Erzählen (wenn auch die Fußnoten zu auf den jeweiligen Seiten erwähnten Werken nicht hätten sein müssen), sondern als lustvolles Phantasieren darüber, wie es hätte sein können. Und ungeachtet der meist misslichen Lage der Frauen in den dreißig Jahren Erzählzeit, wünscht man sich, es wäre alles so gewesen mit diesen Könnerinnen.
Angela Steidele, übrigens eine begeisterte Bach-Chorsängerin, thematisiert die Unzuverlässigkeit einer jeden (auch ihrer) Romanrekonstruktion überdeutlich, wenn sie die betagte Dorothea, die am Ende des Siebenjährigen Kriegs im verheerten Sachsen mit der Niederschrift ihrer Erinnerungen an glücklichere Tage beginnt, durch deren Nichten darauf hinweisen lässt, dass so manches nicht stimmen könne. Luise Kulmus etwa kam erst nach der ersten Aufführung des Weihnachtsoratoriums nach Leipzig, um Gottsched zu heiraten. Aber das ändert nichts an der inneren Wahrhaftigkeit dieses Buchs, das mit seiner Vielstimmigkeit und den wechselnden Rhythmen der Erzählung selbst ein großes Oratorium geworden ist. Und wie Bachs Musik ein allzeit perfektes Weihnachtsgeschenk. ANDREAS PLATTHAUS
Angela Steidele: "Aufklärung". Roman.
Insel Verlag, Berlin 2022. 603 S., geb.
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