»'Milchmann' ist stilistisch vollkommen unverwechselbar. In einem Moment beängstigend, dann wieder inspirierend. Überwältigend. «
Jury des Man Booker Prize
- SPIEGEL BESTSELLER
- Man Booker Prize 2018 (Fiction)
- National Book Critics Circle Award 2018 (Fiction)
- Orwell Prize 2019
»Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb. « Mit Milchmann legte Anna Burns das literarische Großereignis des vergangenen Jahres vor. Ein Roman über den unerschrockenen Kampf einer jungen Frau um ein selbstbestimmtes Leben - weltweit gefeiert und ausgezeichnet mit dem Man Booker Prize.
Eine junge Frau zieht ungewollt die Aufmerksamkeit eines mächtigen und erschreckend älteren Mannes auf sich, Milchmann. Es ist das Letzte, was sie will. Hier, in dieser namenlosen Stadt, erweckt man besser niemandes Interesse. Und so versucht sie, alle in ihrem Umfeld über ihre Begegnungen mit dem Mann im Unklaren zu lassen. Doch Milchmann ist hartnäckig. Und als der Mann ihrer älteren Schwester herausfindet, in welcher Klemme sie steckt, fangen die Leute an zu reden. Plötzlich gilt sie als »interessant« - etwas, das sie immer vermeiden wollte. Hier ist es gefährlich, interessant zu sein.
Doch was kann sie noch tun, nun, da das Gerücht einmal in der Welt ist? Milchmann ist die Geschichte einer jungen Frau, die nach einem Weg für sich sucht - in einer Gesellschaft, die sich ihre eigenen dunklen Wahrheiten erfindet und in der jeglicher Fehltritt enorme Konsequenzen nach sich zieht.
Stimmen zur englischen Ausgabe
»Ein einzigartiger Blick auf Irland in Zeiten des Aufruhrs. «
Jury des Man Booker Prize
»Brillant. Die beste Booker-Preisträgerin seit Jahren. «
Metro
»Tiefgründige, ausdrucksstarke, eindringliche Prosa. «
Sunday Telegraph
»Auf ein solches Buch haben wir dreißig Jahre lang gewartet. «
Vogue
»Originell, witzig, entwaffnend schräg. Einzigartig. «
The Guardian
»Beeindruckend, wortstark, lustig. «
Irish Times
»Milkman blickt mit schwarzem Humor und jugendlicher Wut auf die Erwachsenenwelt und deren brutale Absurditäten. «
The New Yorker
»Dieser Roman knistert vor intellektueller Kraft. «
New Statesman
Besprechung vom 25.02.2020
Vorsicht vor dem Milchmann
Eingefleischte Wachhunde: Anna Burns betreibt Grenzvermessungen im Nordirland-Konflikt und gewinnt damit den Booker-Preis.
Schon der erste Satz schlägt den Ton an, der durch den Roman weiterhallen wird: "Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb." Der Satz skizziert das explosive "psychopolitische" Feld, auf dem Anna Burns' Roman "Milchmann" angesiedelt ist, ohne dass es je beim Namen genannt oder zeitlich und räumlich verortet werden würde. Es ist das Belfast der siebziger Jahre, die Zeit der bürgerkriegsähnlichen "Troubles", als Bombenanschläge, Schießereien und Racheaktionen das Land bis hinein in die emotionalen Zwischenräume und den Untergrund der Familien verminten: überall Misstrauen, Angst und Paranoia, kaputte Beziehungen, beschädigte Seelen.
Anna Burns, Jahrgang 1962, wuchs damals im Belfaster Arbeiterviertel Ardoyne auf, einer Hochburg der katholischen Rebellen. Sie verlor bei den Troubles 1976 mehrere ihrer Freunde und musste sich lange mit Gelegenheitsjobs und Sozialhilfe durchschlagen. Ihr "Milchmann" agiert in einer topographisch, historisch und sozial deutlich umrissenen Gegend, aber Ardoyne ist überall, im Bett und auf der Straße, in Schulen, Kirchen und sogar beim romantischen Sonnenuntergang. Überall gibt es die fatale Trennung in "wir" und "die auf der anderen Seite der Grenze", eigenes und feindliches Terrain, dazwischen einen schwer durchschaubaren Flickenteppich von neutralen Zonen, Exklaven, No-go-Areas und dem, was Burns das "offizielle Mann-Frau-Gebiet" nennt. Jedes Gebiet hat seine unausgesprochenen Regeln und Gesetze, jede Seite ihre eigenen Sprachen, Hymnen, Fernsehserien und Getränke. Es gibt "Verrätertee" und "Treuetee", unmögliche Namen wie Nigel oder Jason, und wenn ein katholischer Autoschrauber einen britischen Oldtimer ausschlachtet, muss er aufpassen, dass er dafür nicht geteert und gefedert wird.
Die politisch-religiösen Konflikte, die Burns beschreibt, meinen immer auch allgemeinere, universale Erfahrungen: prädigitale Überwachung und soziale Kontrolle durch Klatsch, Gerüchte und Gerede, sexuelle Übergriffe im Namen der guten Sache, patriarchalische Verhaltensweisen, die sich unter hohem Außen- und Konformitätsdruck zu fast totalitären Strukturen verfestigen. "Eingefleischte Wachhunde" der Verhältnisse, fast ausnahmslos Männer und Mütter, bestimmen, was normal oder "übergeschnappt", was gerade noch erlaubt oder schon tabu ist, wer eine anständige Frau und wer Flittchen ist; das ist 1976 in Ardoyne nicht anders als heute in Saudi-Arabien. Wer nicht die "richtige Religion" hat, muss sich verstecken, verleugnen, den Mund halten oder am besten gleich abhauen. Nicht umsonst bekam Burns für ihren "Milchmann" auch den Orwell Prize for Political Fiction.
Ins Fadenkreuz der Großen Brüder gerät die Erzählerin, weil sie in einer Mischung aus Trotz, Tagträumerei und Naivität gegen den herrschenden Konsens rebelliert. Namen tun nichts zur Sache. Die junge Frau heißt einfach nur Mittelschwester, so wie die Männer Schwager drei oder McIrgendwas heißen. Auch der "Milchmann" ist keine Berufsbezeichnung, sondern eine Instanz, ein Held des Widerstands im Viertel. Eines Tages macht der Einundvierzigjährige Besitzansprüche auf die achtzehnjährige Mittelschwester geltend; nicht offensiv und aggressiv, durch Blicke, klare Ansagen oder gar sexuelle Gewalt. Aber für alle ist klar: Der Milchmann hat eine Frau für sich erwählt, sie mit seinem Zeichen gebrandmarkt, für unberührbar erklärt. Was sie selber will, dass sie schon einen "Vielleicht-Freund" hat, sind nur noch "Fehlzündungen ihrer ungeschliffenen Fantasie". Für die junge Frau ist der Milchmann ein gefährlicher Stalker, für ihre Umgebung ist sie jetzt, je nach Sichtweise, "Paramilitärgroupie", Ehrenjungfrau, Helden-Trostfrau oder Schlampe, jedenfalls eine Funktion des anderen. Sie kann ihm aus dem Weg gehen, Gänsehaut oder die "Schittelschütteligkeit" kriegen, wenn er sie anspricht, sich beim Joggen von Schwager drei eskortieren lassen oder ganz aus der Öffentlichkeit verschwinden, aber dem Milchmann und seinem Freiheitskämpfergefasel entkommt sie nicht.
Dabei hat die Erzählerin durchaus einen eigenen Kopf, eine große Klappe und einen widerspenstigen Humor. Wie Anna Burns liebt auch sie Romane aus dem 19. Jahrhundert, die sie am liebsten beim Gehen liest. Schon das wird unter den gegebenen Verhältnissen als unverzeihlicher Mangel an Aufmerksamkeit registriert. Lesen im Gehen bedeutet nämlich vorsätzliche Zerstreuung, verweigerte Wachsamkeit, "absichtlich nichts wissen wollen", kurz: Verrat.
Burns ging 1987 nach London, um Russisch und Französisch zu lernen und Dostojewski und Flaubert im Original lesen zu können. Mit dem Schreiben begann sie erst spät. In Romanen wie "No Bones" und "Little Constructions" verarbeitete sie die Konflikte ihrer Heimat in Familiendramen voller Wahn und Gewalt, Schuld und Sühne. Der Erfolg war überschaubar: Die englische Literaturkritik nahm sie kaum wahr, nordirische Kollegen wie Danny Morrison rügten ihr düsteres Menschenbild. Umso überraschender kam dann 2018 der späte Durchbruch: Als erste nordirische Autorin überhaupt erhielt Burns für den zuvor von mehreren Verlagen abgelehnten "Milchmann" den renommierten Man Booker Prize.
Die Jury lobt ihren Stil als "vollkommen unverwechselbar", als überwältigend, beängstigend, inspirierend. Tatsächlich hat bislang wohl noch kein Autor so eigenwillig, genau und zugleich entwaffnend komisch über die Troubles geschrieben. Burns selber umriss ihren erzählerischen Ansatz einmal so: "Enid Blyton trifft Agatha Christie trifft russische Märchen."
So gibt es in "Milchmann" kaum Beschreibungen, Zeitkolorit oder Folklore, dafür umso mehr Dialoge und Reflexionen oder auch mal die urfeministischen Diskurse der "Themenfrauen". Auch die Namenlosigkeit der Figuren und der ständige Wechsel zwischen Umgangs- und Literatursprache irritieren manchmal. Zudem neigt die Erzählerin quasi strukturell zu einer gewissen Geschwätzigkeit. Für alle Konflikte gibt es nur eine Lösung: Man muss die Widersprüche aushalten, miteinander reden, im Gespräch bleiben, und dann gibt es am Ende eine Art von "Entspannung", vielleicht sogar Lachen.
Das gilt für die Mittelschwester und darüber hinaus wohl auch für andere Troubles vom Brexit bis zur MeToo-Debatte. Aber Burns gibt ihren Lesern auch Freiheit. In einem ihrer seltenen Interviews erklärt sie, so wie sie selbst beim Schreiben ihre Figuren kommen und gehen lässt, ohne sie kontrollieren zu wollen oder zu können, soll man auch beim Lesen wegnehmen oder hinzufügen, was und wen man will.
MARTIN HALTER
Anna Burns: "Milchmann". Roman.
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. Tropen Verlag, Stuttgart 2020. 452 S., geb.
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