Besprechung vom 20.09.2022
Säuglingsnasenwandel
Schockierende zeithistorische Momentaufnahme: Anna Kims Roman "Geschichte eines Kindes"
Im Januar 2013 reist die Österreicherin Anna Kim nach Wisconsin, um an einem Writer-in-Residence-Programm der Stadt Green Bay teilzunehmen. Sie nimmt bei einer älteren Dame namens Joan Truttman Quartier. Und die schenkt der Autorin aus Europa eine bewegende Geschichte aus Amerika. Von ihr - nämlich den dramatischen Lebensumständen des Daniel Truttman, des Ehemanns der Joan Truttman - handelt Anna Kims dritter Roman "Geschichte eines Kindes".
Präsentiert werden diese Lebensumstände in einer Mischung aus Tatsachenroman, Akteneinsicht und lakonischer Selbstbefragung des Stoffs durch die Autorin selbst. Denn die Parallelen zwischen Truttman und Kim sind evident: Beide haben in unterschiedlichen Gesellschaften, Generationen, Geschlechtern eine Diskrepanz zwischen Aussehen und Herkunft auszutarieren. Anna Kim ist die sehr koreanisch aussehende Tochter einer koreanischen Mutter und eines österreichischen Vaters und wuchs in Wien auf, was ihr ein lebenslanges Legitimationsthema, anders gesagt: ein Zugehörigkeitsproblem, einbrachte. Daniel Truttman war ein amerikanisches Adoptivbaby, dessen leibliche Mutter den Namen des schwarzen Vaters nie preisgegeben hatte. Ein riesiger Skandal im Midwest-Nest Green Bay, in dem man schwarze Bürger in den Fünfzigerjahren an einer Hand abzählen konnte. War der Vater vielleicht ein tourender Musiker aus einem örtlichen Jazzclub?
Nach quälend langen "Untersuchungen" des Kindes und seiner möglichen Zeugungsumstände wird Daniel Truttman endlich in die Obhut einer weißen Pflegefamilie gegeben, die sich allerdings der großen Herausforderung, die es bedeutet, ein schwarzes Baby in einer weißen Mittelklassegesellschaft aufzuziehen, bewusst ist. Man könnte sagen, Daniel hat Glück gehabt. Und dennoch zögert Joan, die inzwischen allein lebt, da Daniel nach einem Schlaganfall im Pflegeheim ist: "Sie sagte, ich frage mich, ob ich nicht auch vor seiner Krankheit einsam war, einsam mit ihm. Seine Einsamkeit war ansteckend." Sie habe sich sowohl die Verachtung der anderen für ihren Mann als auch seine Wut auf diese zugezogen. Das habe aber für ihre Ehe bedeutet, dass man sich vollständig auf das Lieben hätte einlassen müssen "letztlich nichts anderes zu haben als diese Liebe".
Anna Kim präsentiert die Auszüge aus den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay und setzt diesen Teil des Romans durch eine Schreibmaschinentypographie vom Rest des Romans ab. So lesen wir uns mit zunehmender Spannung ein in einen Fall, der den amerikanischen Rassismus der Fünfzigerjahre in all seinen Facetten dokumentiert. Exemplarisch. Damit liefert Kims "Geschichte eines Kindes" ein Doppeltes: zum einen die schockierende Momentaufnahme einer historischen Konstellation; zum anderen aber auch die Einsicht, wie viel sich in den vergangenen siebzig Jahren dann doch verändert hat.
Das Kind ist den Krankenschwestern gleich nach der Geburt verdächtig. Seine Lippen sind "(eher) fleischig" und "an der Beugeseite des linken Oberarms, die den Umwelteinflüssen (etwa Sonne) am geringsten ausgesetzt ist, wirkt das Kind hellhäutig". Wirkt! Denn "an den seitlichen Stirnpartien sowie in der Nackengegend gibt es Anhäufungen von Pigment". Conclusio: "Weder negride noch indianische Einflüsse sind auszuschließen."
So nimmt die Vermessung des Daniel Truttman, dessen Mutter sich jeder Verantwortung entzieht, ihren Lauf. Liest man heute in den Akten von damals, ist man überrascht, wie verbreitet der Menschenvermessungswahn noch in den Fünfzigern einem wissenschaftlichen Zeitgeist entsprach, der nichts dabei fand, Neugeborene unter die physiognomische Lupe zu nehmen. Mit achtzehn Monaten ist der Säugling ein properes Kind geworden: "Die Nase ist eine abgemilderte Form der trapezförmigen Trichternase - sie ist eher breit, etwas flach und alles in allem auf der derben Seite. Sie vereinigt die primitiven Merkmale der Knopf- und Trichternase in sich." Abwägend heißt es dann aber: "Säuglingsnasen sind jedoch großen Wandlungen unterworfen, in einem Monat wird sie wieder ganz anders aussehen."
Es ist die oberste Priorität des christlichen Sozialdienstes, die Herkunft des Kindes zu klären. Dieser höhere Zweck, der dazu dienen soll, Daniel unter "Seinesgleichen" aufwachsen lassen zu können, heiligt so ziemlich jedes Mittel. Die Mutter wird ausspioniert, ihre Sozialkontakte, Liebschaften, Verwandtschaftsverhältnisse werden nachverfolgt, Menschen ins Gebet genommen, verhört, zur Denunziation angespornt. Das Geheimnis um Daniels Vater wird indes nicht gelüftet. Dafür steht die unbekümmerte Kindsmutter nackt vor einem unerbittlichen Moralgericht, von dem die Rassenfrage noch vor der Freizügigkeitsfrage behandelt wird. Die zuständige Sozialarbeiterin ist die aus Österreich emigrierte Marianne Winkler. Die Tochter dieser offenbar kaltschnäuzigen Frau offenbart wiederum der Erzählerin Jahrzehnte später in Wien ein Geheimnis von großer Tragweite.
Bis es zu dieser Auflösung kommt, wird einiges aus dem Leben des Daniel Truttman erzählt. Zum Beispiel, wie er als junger Mann einmal versucht, seiner Mutter auf dem Golfplatz nahezukommen, und die ihn für den Gärtner hält. Diese Geschichte des nie Ankommens dort, wo man längst ist, kontrastiert Anna Kim mit den Erfahrungen ihrer Erzählerin. Deren koreanische Mutter war in Österreich immer fremd geblieben. Eines Tages geht sie zurück nach Seoul. Zurück bleibt ein mutterloses Mädchen auf der Suche nach sich selbst. Denn ausgerechnet dem elterlichen Teil, der es im Stich gelassen hat, sieht es wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Nicht nur in Wien, auch jetzt bei ihrer USA-Reise bleibt die Erzählerin "die Asiatin". Sie beschreibt: "Seit ich denken könne, versuche man, mir eine Wurzellosigkeit anzudichten oder eine Wurzel zu verpassen, mit der ich nichts anfangen könne."
Anna Kim hat hier ein intelligent komponiertes, aber auch etwas grob zusammengebrachtes Buch geschrieben, das den aktuellen identitätspolitischen Debatten historische Tiefe gibt. Sie zieht eine Verbindungslinie vom institutionalisierten Rassismus, der noch in den Fünfzigerjahren in den Vereinigten Staaten normal war, zur Legitimationsnot einer Österreicherin mit unösterreichischem Aussehen. Es folgt daraus kein moralischer Appell. Nur eine weitere Sichtachse wird freigelegt auf eines der wirkmächtigsten ideologischen Denkmuster der Moderne. Heute wird sich zeigen, ob es die "Geschichte eines Kindes" auf die diesjährige Shortlist des Deutschen Buchpreises schafft. KATHARINA TEUTSCH
Anna Kim: "Geschichte eines Kindes". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 222 S., geb.
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