Altes, wiederentdecktes Menschheitswissen - das uns neue Orientierung gibt
Wir leben im Zeitalter der Krise - und haben doch kaum eine Vorstellung davon, wie wir dem Imperativ des «Immer mehr» entkommen können. Dabei kannten unsere Vorfahren, wie Annette Kehnel zeigt, doch Mittel und Wege. Sie nimmt uns mit auf eine Reise in die Antike und ins Mittelalter, wo sie jahrtausendealtes Menschheitswissen entdeckt - ausgerechnet in den sieben Todsünden, die sie als Lehre vom Umgang mit der Naturgewalt Mensch neu interpretiert. Jede der Todsünden spiegelt eine Bedingung unserer menschlichen Existenz: So geht es bei luxuria (Wollust) letztlich um maßvollen Konsum, bei avaritia (Habgier) um die Einsicht, dass Besitz und Reichtum beschränkt werden müssen; ira (Zorn) bearbeitet Aggression und Gewalt, invidia (Neid) die Kehrseite von ungezügeltem Wettbewerb und superbia (Hochmut) unser Streben nach Status und Macht.
Ein überraschend aktuelles Bild des Menschen, das auf Balance, Resonanz und Ausgleich zielt - ein neuer Deutungshorizont für unsere Zeit und ihre Herausforderungen. Das in der Todsündenlehre gespeicherte traditionelle Wissen weist einen Weg, mit unserer destruktiven Seite umzugehen. Kehnel birgt dieses Wissen für die Gegenwart und zeigt, wie wir damit uns und die Welt verändern.
Besprechung vom 08.10.2024
Frieden will der Göttervater
Von der heiklen Neigung, in die Vergangenheit zu tauchen, um dort Auskünfte für die Gegenwart zu finden: Die Mediävistin Annette Kehnel hält sich dabei an klassisch Antikes und den Katalog der christlichen Todsünden.
Im Januar 2023 reiste Annette Kehnel, Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim, nach Vancouver, um ihre Tochter zu besuchen, die dort ihr Gap Year verbrachte. Die beiden begaben sich auf die "Suche nach den Weisheiten der First Nations an der Pazifikküste", und was sie da zu hören bekamen, wies auf Europa zurück: Indigenes Wissen sei kein Exportartikel, "warum nutzt ihr nicht eure eigenen Wissensressourcen?".
Kehnel machte sich an die Arbeit, und schon liegt ihr Buch zum Thema vor: "Die sieben Todsünden - Menschheitswissen für das Zeitalter der Krise". Das Konzept der sieben Todsünden und das "darin tradierte Erfahrungswissen des Westens" ergeben, so Kehnel, ein "überraschend zeitgemäßes Bild des Menschen". Bei Völlerei (lateinisch gula) gehe es um Ernährung, bei Habgier (avaritia) um Reichtum und Gerechtigkeit, bei Ausschweifung (luxuria) um Konsum und so fort. Deren Regelung in früheren Zeiten aber ziele nicht auf Unterdrückung, sondern auf "Balance, Resonanz und Ausgleich", nicht auf individuelles Wohlbefinden, sondern auf den Menschen in seiner sozialen und natürlichen Umwelt. Und wenn es sich bisher so anhörte, als werde hier nur das christliche Europa befragt, nein, auch die klassische Antike kommt zur Sprache.
Ein großes Anliegen ist der Autorin der Verzicht auf Fleisch, ein wichtiger Zeuge Pythagoras, der Vorsokratiker, der rät: "Enthalte dich der beseelten Lebewesen." Der dahinterstehende Respekt vor der Natur als Gemeinschaft der Lebewesen verdient gewiss Achtung. Aber als pythagoreisch sind auch Ratschläge überliefert wie "Enthalte dich der Bohnen" oder "Sei einem Mann beim Aufladen einer Last behilflich, nicht aber beim Abladen" oder "Verweigere nicht den Glauben an irgendetwas Wunderbares, das die Götter oder die Auffassung vom Göttlichen betrifft". Da fragt sich, welchen Anspruch die als pythagoreisch bezeichneten Fragmente machen können. Für Zurückhaltung beim Fleischverzehr sprechen ernste Gründe, aber was trägt ein Pythagoras-Zitat bei? Und es ist bei Kehnel nur ein Zitat, auf die Welt des Pythagoras wird nicht eingegangen oder nur so weit, wie sie als Bestärkung des politisch Willkommenen dienen kann.
Das geht bis zur Verkehrtheit im Versuch, das Judentum als Zeugen des Vegetarismus aufzurufen. Kain, der Mörder Abels, habe ein Tieropfer gebracht, das von den "Göttern" (nicht etwa Jahwe!) weniger geschätzt wurde als das "vegetarische Brandopfer" seines Bruders. Tatsächlich ist es umgekehrt, Abel ist der Schafhirt, der mörderische Kain aber der Ackerbauer. Gewiss, jeder macht mal einen Fehler. Aber die Verwechslung des blutigen Opfers mit dem der Feldfrüchte hier ist dramatisch. Nicht nur beruht auf diesem Irrtum die ganze Argumentation mitsamt den politischen Folgerungen. Man weiß doch einfach oder sollte es als Mediävistin wissen, dass im Alten Testament das Tieropfer eine große Rolle spielt. Man muss nur an den Befehl zur Opferung Isaaks denken, für den dann ein Widder dargebracht wird. Noch Maria und Josef opfern zur Beschneidung Jesu zwei Tauben "nach der Vorschrift im Gesetze des Herrn". Und warum musste wohl der Stifter des Christentums am Kreuz getötet werden?
In den "Sieben Todsünden" geht es um altes Menschheitswissen, aber daran ist dessen Prophetin nicht sehr stark interessiert. Zu ihren Lieblingsfiguren gehört der sanfte Orpheus. Aber "mit dem Anbruch der Moderne im 18. Jahrhundert wurden weniger empfindsame Stimmen immer lauter". Sie hat Prometheus im Blick, der gegen die Götter revoltierte, den Menschen das Feuer brachte und sie die "Schmiedekunst lehrte, die Voraussetzung zur Unterwerfung, ja Überwindung der Natur". Und was noch schlimmer ist: Mit Feuer und Schmiedekunst kamen zuletzt "Schwerter und andere Waffen. Gar nicht gut! Fand Zeus und verurteilte Prometheus zu einer grausamen Strafe."
Demnach hätte Zeus den Prometheus zu Recht bestraft, aus Friedensliebe, im Sinne der Menschen? Eine schwierige Deutung. Der Pazifismus war den Griechen fremd, Zeus ein durchaus kriegerischer Gott, unwahrscheinlich, dass er an Waffen Anstoß genommen hätte. Vor allem aber ist der Prometheus-Mythos in der literarischen Überlieferung tief pessimistisch. Prometheus ist bei Aischylos, dem frühesten der drei attischen Tragiker, der Heros, der um seiner Menschenfreundlichkeit willen von Zeus furchtbar bestraft wird.
Gewiss kann man Mythen auch deuten über ihre literarischen Zeugen hinaus, die ja selbst Ausdeuter sind. Aber dazu müsste man mit weit feineren Mitteln arbeiten, als Kehnel sie anwendet. Das ist das erste große Problem ihres Buches, die Sorglosigkeit, fast Wurstigkeit gegenüber der Überlieferung, der sie doch so großen Kredit einzuräumen beansprucht.
Das zweite Problem, mit dem ersten eng zusammenhängend, betrifft die politische Wirkung. Der Untertitel "Menschheitswissen für das Zeitalter der Krise" bezeichnet die Absicht des Buches, die Vergangenheit als Mittel zur Bewältigung gegenwärtiger Krisen zu nutzen. Was einmal war, gegolten und möglicherweise geholfen hat, das soll uns Jahrhunderte später wieder helfen. Das setzt einen ganz erstaunlichen Glauben an die Unveränderlichkeit des Menschen voraus, doch die wird von Kehnel gar nicht erst diskutiert. Deshalb läuft ihre Beredsamkeit auch so munter vor sich hin.
Im Kapitel "Avaritia - Besitz" zeigt sich Kehnel sehr beeindruckt vom Sabbatjahr (5. Buch Moses, 15, 1-15). Jedes siebte Jahr sollte allen Kleinschuldnern das "Handdarlehen" erlassen werden; das diente, so Kehnel der "sozialen Nachhaltigkeit" und bewahrte "das Wissen, dass der Habgier regelmäßig Einhalt geboten werden muss"; die Überschrift des Abschnitts lautet "So einfach geht Umverteilung". Tatsächlich ist diese Bibelstelle sehr eindrucksvoll, sehr schön auch. Aber man sieht auch gleich, dass die Wirksamkeit der Norm eine wichtige Voraussetzung hatte, den Jahwe-Glauben. In fünfzehn Versen wird Jahwe neunmal genannt und sein Segen für die, die seine Gebote halten. Die wohlhabenden Juden, die hier angesprochen waren, handelten wohl weniger aus Einsicht in die Forderungen sozialer Nachhaltigkeit als aus Gottesfurcht. Und noch etwas ist wichtig, was die Umverteilung im alten Judentum erleichterte: Ihre Vorzüge kamen nur den Glaubensbrüdern zugute, es geht um Handeln in der Kultgemeinschaft.
So oder vergleichbar ist es auch bei den anderen Beispielen guter sozialer Ordnung, die die "Sieben Todsünden" präsentieren: Es sind Regelungen für überschaubare Gemeinschaften, man beobachtet sich, Ansehen und Schande sind starke Antriebskräfte. Kehnel spricht von den Wissensressourcen der Vergangenheit, von den moralischen Ressourcen ist nicht die Rede. Merkwürdig, denn ihr Buch ist ein Beispiel dessen, was Nietzsche monumentalische Geschichtsschreibung nannte, Geschichte für den, "der einen großen Kampf kämpft, der Vorbilder, Lehrer und Tröster braucht". Und Nietzsche - bei einiger Sympathie für diese Sichtweise - bezeichnet schon das Problem solcher Vergleichung: "Wie viel des Verschiedenen muss, wenn sie jene kräftigende Wirkung tun soll, dabei übersehen, wie gewaltsam muss die Individualität des Vergangenen in eine allgemeine Form hineingezwängt und an allen scharfen Ecken und Linien zu Gunsten der Übereinstimmung abgebrochen werden!" "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" erschien 1874, seither sind unsere Ansprüche an historische Argumentationen eher noch gestiegen. In der Naivität kann eine erhebliche Kraft liegen. Professoren steht sie nicht gut. STEPHAN SPEICHER
Annette Kehnel: "Die sieben Todsünden". Menschheitswissen für das Zeitalter der Krise.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2024. 400 S., Abb., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Die sieben Todsünden" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.